Menschenrechte als offene Ordnungsstruktur. Möglichkeiten und Grenzen einer Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik.

von Hannah Birkenkötter

Können die Menschenrechte als Struktur für die internationale Ordnung dienen? Dies war letztlich die Hauptfrage des zweiten Panels. Wenn also im Folgenden vor allem schlaglichtartig einige Kernthesen der Redner (und das ist hier nicht als generisches Maskulinum eingesetzt – aber dazu in einem späteren Post mehr) aufgezeigt werden, statt alle Punkte im Detail zu rekapitulieren, dann geschieht das vor allem im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage.

“Keine lingua franca, sondern Ordnung” – Heiner Bielefeldt zum universalen Anspruch der Menschenrechte

“Die Menschenrechte fungieren als lingua franca of global moral thought” – mit einem Zitat von Michael Ignatieff begann Heiner Bielefeldt, Hauptreferent des zweiten Panels und UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, seinen Vortrag über Menschenrechte. Dabei legte er vor allem auf eine These wert: Menschenrechte sind mehr als nur lingua franca, sie dürfen nicht auf ihre Semantik reduziert werden. Denn wenn nur Worte benutzt werden, statt tatsächlich tätig zu werden, so Bielefeldt, dann steht die Menschenrechtssemantik sogar einer Durchsetzung menschenrechtlicher Standards entgegen.

Als Illustrationen einer Menschenrechtssemantik nannte Bielefeldt die Resolution des Menschenrechtsrates zu traditionellen Werten (Resolution 21/3), die Russland in den Menschenrechtsrat eingebracht hatte. Die Resolution betont den Stellenwert traditioneller Werte wie Familie und Gemeinschaft, die einer Verwirklichung der Menschenrechte nicht entgegenstünden. Tatsächlich, so Bielefeldt, gehe es aber Staaten wie Russland oder China nicht darum, Freiheitsrechte zu schützen. Russland setze menschenrechtliches Vokabular ein, damit der Regierung nicht vorgeworfen werden könne, untätig zu sein: reine Menschenrechtssemantik also. Nach Bielefeldt liegt die Wurzel allen Übels in einer Abkoppelung der Freiheitsrechte von der Menschenwürde: Diese beiden Konzepte dürfen nicht diametral einander entgegengesetzt werden, sondern müssen ganzheitlich gedacht werden. Also gerade nicht ein Kampf des sogenannten “dignity-based approach” gegen den “freedom-based approach”.

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Dieser Ansatz ist nicht neu. Er wurde in aller Deutlichkeit erstmalig auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 ausformuliert, als die Mitgliedstaaten erklärten: “Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang.” Diese Erkenntnis hatte epochale Bedeutung. Sie führte zum Einen zu einer Änderung des bis dahin vorherrschenden Ansatzes, der Abwehrrechte und Leistungsrechte als Gegensätze einander gegenüberstellte. Jetzt konnten Abwehr- und Leistungsrechte als Einheit gedacht werden, die sich gegenseitig verstärkten. Damit rückte der Fokus vor allem auf die Frage, welche Inhalte einzelner Menschenrechte justiziabel, also einklagbar, sein sollten. In diesem Bereich spielen vor allem die Ausschüsse der einzelnen Menschenrechtsverträge eine große Rolle, die zumindest teilweise auch Individualbeschwerden anhören. Dazu wurde zum Beispiel für Rechte aus dem Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2008 ein Fakultativprotokoll verabschiedet, das Deutschland bis heute nicht unterzeichnet hat. Heiner Bielefeldt forderte hier die Bundesregierung dazu auf, dieses Protokoll zu ratifizieren und so den Weg für Individualbeschwerden auch deutschen Bürger_innen frei zu machen. Ebenso wies er auf die mangelnde Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention hin; beides fordert auch der DGVN-Bundesvorstand.

Wenn die Menschenrechte unteilbar sind, dann sind sie – in den Worten Bielefeldts –  mehr als nur eine lingua franca: Die normative Hauptfunktion unteilbarer Menschenrechte ist ihre Eigenschaft als offene Ordnungsstruktur. Damit versprechen die internationalen Menschenrechte, der zunehmenden Ausdifferenzierung der internationalen Ordnung in einzelne und spezialisierte Regime entgegenzuwirken. Gleichzeitig birgt die Proliferation von menschenrechtlichen Normen wieder die Gefahr einer zunehmenden Fragmentierung. Da gilt umso mehr, wenn die Idee unteilbarer Menschenrechte nicht ernst genommen wird, sondern Freiheitsrechte und ein auf Würde fußender Ansatz gegeneinander ausgespielt werden. Was also tun angesichts der Fragmentierungsgefahr und der Gefahr, dass der universale Anspruch der Menschenrechte gleichzeitig droht, zu reiner Semantik zu verkommen?

Vorbehalte trotz Reformerrolle: Jochen von Bernstorff zum deutschen Engagement in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen

Um diese Frage zu beantworten, kann ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein. Jochen von Bernstorff, selbst einst Vertreter Deutschlands bei den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention und Mitglied der deutschen Delegation in der ehemaligen Menschenrechtskommission und dem Menschenrechtsrat, hob hervor, dass Deutschland 1993 der Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte durchaus skeptisch gegenüber stand. Dabei hatte sich die BRD bereits sehr früh für die Menschenrechtspolitik der UN eingesetzt. Am 28. September 1976 begann die bundesrepublikanische Menschenrechtspolitik mit einem “Paukenschlag”, als Hans Dietrich Genscher einen Weltgerichtshof für Menschenrechte vorschlug. Dabei sah sich die BRD durchaus auch Kritik ausgesetzt: Die DDR prangerte vor allem die fehlende Bestrafung ehemaliger SS-Funktionäre in Westdeutschland an und schalt die Bundesrepublik für ihre Verstrickungen mit dem diktatorischen Argentinien und dem Apartheidregime Südafrikas. Damit waren die Jahre der geteilten Mitgliedschaft Deutschlands vor allem geprägt durch ein “Ringen” um die Stellung als Musterknabe.

Warum also dann 1993 die Skepsis gegenüber der Idee der Unteilbarkeit? Ich vermute, dass vor allem bei Leistungsrechten trotz grundrechtsdogmatischer Durchbrüche auch auf der nationalen Ebene durchaus noch Skepsis herrschte, ob und in welchem Umfang Leistungsrechte – und dazu gehören die allermeisten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte – einklagbar sind. Denn traditionell werden Grundrechte vor allem als Abwehrrechte verstanden, also als Räume, die frei von staatlichen Eingriffen sind. Wird aber etwa ein „Recht auf Gesundheit“ ausgerufen, so ist nicht immer klar, welche konkrete Leistungspflicht hier den Staat trifft. Dass das institutionelle Gefüge der Vereinten Nationen hier nicht nur zur Ausgestaltung einzelner Rechte, sondern gar zu einem neuen Menschenrecht führen kann, erläuterte von Bernstorff an einem Beispiel: 2010 verabschiedete die Generalversammlung Resolution 64/292, in der explizit ein Recht auf Wasser und sanitäre Einrichtungen als Menschenrecht anerkannt wurde. Dem war aber ein langer Prozess vorausgegangen: Der Ausschuss zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten hatte bereits 2002 unter Mitwirkung auch deutscher Völkerrechtler wie Eibe Riedel und Bruno Simma den General Comment No. 15 verabschiedet, der aus den Artikeln 11 und 12 des Wirtschafts- und Sozialpaktes – den Rechten auf einen angemessenen Lebensstandard und auf Gesundheit – ein Recht auf sauberes Trinkwasser ableitete. Dieser General Comment wurde mehrfach in der Menschenrechtskommission und dem neuen Menschenrechtsrat diskutiert, und schließlich das Recht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen nach der Generalversammlung auch vom Menschenrechtsrat im Jahre 2011 anerkannt.

Wenn also Jochen von Bernstorff in dieser Hinsicht Deutschland ein positives Zeugnis bescheinigte und auch dessen positive Rolle beim Reformprozess des VN-Menschenrechtssystems hervorhob, bleibt die Frage: Reichen einzelne Beiträge, wie etwa zum Recht auf sauberes Trinkwasser, aus, um Fragmentierungstendenzen entgegenzuwirken? Bedarf es neuer Ansätze, wenn Menschenrechte auf immer größere Teile des VN-Systems Auswirkungen haben?

Menschenrechtsschutz durch den Sicherheitsrat: Dominik Steiger zur Sanktionspolitik und zum Individualrechtsschutz

Dass die Menschenrechte auch im Sicherheitsrat immer größere Bedeutung erfahren, zeichnete Dominik Steiger nach. Heute ist allgemein anerkannt, dass massive Menschenrechtsverletzungen – etwa im Rahmen eines internen Konflikts – eine Bedrohung für den internationalen Frieden darstellen und Handlungsoptionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII eröffnen. Der Sicherheitsrat hat in den letzten Jahren vermehrt sogenannte thematische Resolutionen erarbeitet, so etwa zum Thema Kinder und bewaffnete Konflikte. Dabei habe Deutschland eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen der Resolution 1539 (2004) gespielt, die als Wegbereiter für individuelle Maßnahmen gegen Gruppen, die Kindersoldat_innen einsetzen, gilt.

Dass menschenrechtliche Garantien nicht zuletzt auch die Vereinten Nationen selbst binden, zeigt die Diskussion um Rechtsschutzmöglichkeiten gegen individuelle Sanktionsregime. Mit Resolution 1267 (1999) verabschiedete der Sicherheitsrat ein Sanktionsregime, das unter anderem vorsah, Gelder von mutmaßlichen Unterstützer_innen der Taliban einzufrieren. Wer Gegenstand solcher Sanktionen war, wurde durch einen Ausschuss des Sicherheitsrats beschlossen. Das traf auch Yassin Abdullah Kadi und seine in Schweden ansässige Al-Barakaat-Stiftung. Da es Kadi nicht ermöglicht wurde, von der Liste gestrichen zu werden, oder jedenfalls in einem rechtsförmigen Verfahren nachprüfen zu lassen, ob er zu Recht auf die Liste gesetzt wurde, klagte vor dem Europäischen Gerichtshof und bekam Recht. Das schreckte natürlich den Sicherheitsrat auf, der seinerseits – unter tatkräftiger und aktiver Unterstützung Deutschlands – ein Ombudsverfahren einrichtete, welches aber aus menschenrechtlicher Sicht nach wie vor defizitär ist. Es zeigt sich aber an diesem Beispiel, dass menschenrechtliche Gesichtspunkte die Arbeitsweisen eines so gewichtigen Organs wie dem Sicherheitsrat auch nachhaltig verändern können. Allerdings haben in diesem Fall gerade nicht die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen eingegriffen. Vielmehr war es der Standard der Europäischen Union, der zu einer ersten Verbesserung führte.

Menschenrechte als Ordnungsstruktur?

Sind Menschenrechte also als Ordnungsstruktur zu sehen, die vor allem normativ als ordnendes Element funktionieren? Wie sich momentan am Syrienkonflikt zeigt, ist der Zielkonflikt zwischen Menschenrechten einerseits und der Souveränität sowie der Friedenssicherung andererseits noch lange nicht ausgetragen. Einig waren sich alle Panellisten, dass sich die deutsche Politik zu häufig hinter EU-Politik versteckt, dass Deutschland durchaus deutlicher eine eigene Menschenrechtspolitik entwickeln könnte. Aber was kann das heißen?

Ein nach wie vor großes Defizit der Menschenrechte ist ihre mangelhafte Durchsetzbarkeit. Georg Nolte hatte am Vorabend gefordert, mehr Wert zu legen auf die Einhaltung völkerrechtlicher Normen durch rechtsförmige Institutionen. Bedeutet das also doch, Genschers Traum vom Menschenrechtsgericht wahr zu machen? Politisch erscheint dies gegenwärtig nicht durchsetzbar, denkbar wäre aber zumindest eine bessere Vernetzung der bestehenden Ausschüsse. Die Individualbeschwerdeverfahren der einzelnen Menschenrechtsverträge existieren bereits. Sie werden aber nur selten genutzt und – das forderte Heiner Bielefeldt in der Diskussion – müssen erst einmal ernst genommen werden. Hier legte aber gleich Andreas Zumach den Finger in die Wunde: Denn die Entscheidung des Antirassismus-Ausschusses wird gerade in Deutschland oftmals nicht ernst genommen. Im April diesen Jahres hatte der Ausschuss die Äußerungen Thilo Sarrazins in der Zeitschrift Lettre International für rassistisch erklärt und Deutschland außerdem wegen nicht ausreichender Sanktionierung dieser Äußerungen gerügt. Innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft stieß die Rüge auf Kritik: Sarrazins Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. Auch Heiner Bielefeldt schloss sich dieser Kritik an und sah jedenfalls keinen gesteigerten Bedarf nach einer Änderung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Hier zeigt sich: Offensichtlich gibt es selbst bei den Enthusiasten des internationalen Menschenrechtsschutzes Skepsis, wenn ein Ausschuss autoritativ über einen Einzelfall entscheidet. Ich denke aber, das gehört zu einer Verbesserung der Effizienz internationalen Menschenrechtsschutzes dazu: Das Entscheidungsgefüge muss auch dann anerkannt werden, wenn man mit der Entscheidung aus politischen Gründen nicht übereinstimmt, etwa weil man die Meinungsfreiheit höher gewichtet als den Schutz vor rassistischen Äußerungen. Denn sonst droht man sich leicht selbst dem Vorwurf einer reinen Menschenrechtssemantik ausgesetzt. Deshalb sollte Deutschland, wenn auch vielleicht zähneknirschend, die Entscheidung des Antirassismus-Ausschusses rasch umsetzen. Gleichzeitig kann es sich stark machen für eine stärkere Vernetzung der einzelnen Gremien. Das ist sicher erforderlich, um die normative Ordnungsfunktion der Menschenrechte auch institutionell abzusichern. Und könnte gerade ein spezifisch deutscher Beitrag zur VN-Menschenrechtspolitik sein.

Panel 2: Menschenrechte, 19.09.2013, 11h30

Referat: Heiner Bielefeldt

Discussants: Jochen von Bernstorff, Dominik Steiger

Moderation: Andreas Zumach

Kein Anlass zum Schulterklopfen – Eine Bestandsaufnahme zur deutschen UN-Politik im Bereich Umwelt, Entwicklung und Nachhaltigkeit

Von Steffen Stübig

Die Fachtagung „40 Jahre deutsche UN-Mitgliedschaft“ zog eine kritische Bilanz der deutschen UN-Politik in den Bereichen Umwelt, Entwicklung und Nachhaltigkeit. Im Folgenden werde ich die groben Diskussionslinien des Panels zusammenfassen und einen Blick über den Tellerrand hinaus wagen. Das Panel, das von Dagmar Dehmer (Tagesspiegel Berlin) moderiert wurde, war sich darin einig, dass der deutsche Beitrag bestenfalls suboptimal sei. Doch dürfe auch dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch der multilaterale Weg über die Vereinten Nationen Probleme mit sich bringen würde. Nicht weniger tückische Fallstricke aber birgt die Idee, zukünftig über alternativen Routen, die außerhalb der UN zusammengeführt werden sollen, zur einer nachhaltigen Entwicklungs- und Umweltpolitik gelangen.

Panel 1

Ein Grundproblem für die Politikfelder Entwicklung und Umwelt im System der Vereinten Nationen seien schlechte Ausgangsvoraussetzungen, deren Nachwirkungen bis heute relevant seien. Zunächst haben sich die Felder im System der Vereinten Nationen erst relativ spät institutionalisiert, so Steffen Bauer von der Abteilung Umweltpolitik und Ressourcenmanagement am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik. Der eigentliche Startschuss war die Konferenz der Vereinten Nationen über die Umwelt und den Menschen von 1972. Schon damals stellte die indische Premierministerin Indira Gandhi fest: „The environmental problems of developing countries … reflect the inadequacy of development “. Aus der Beobachtung schwerwiegender Entwicklungsprobleme der aus der Dekolonisierung hervorgegangenen Staaten wurde also die Schlussfolgerung gezogen, dass internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik eng miteinander verflochten sind.

Doch der Nexus zwischen Entwicklung und Umweltpolitik fiel den Interessen der jeweiligen politischen Lager im Ost-West-Konflikt zum Opfer. Bezeichnend für die Logik des Systemkonfliktes sei es beispielsweise, dass die Konferenz in Stockholm von dem sozialistischen Lager vollständig boykottiert wurde. Der Anlass des Boykotts war die Vertretung der Bundesrepublik mit Beobachterstatus, während demgegenüber eine Delegation aus der DDR nicht eingeladen war. Da der Kalte Krieg in anderen Arenen ausgefochten wurde, galt der Bereich als soft politics und fristete ein Schattendasein. Dies kann aus heutiger Sicht jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seit den 1970er Jahren die Umwelt- und Entwicklungsproblematiken eher noch verschärft haben. Steffen Bauer beschrieb anhand einer Grafik, dem so genannten Doughnut, es würde immer schwieriger, einen gerechten Pfad zwischen Entwicklung und Umwelt einzuschlagen.

 

Defizite der deutschen UN-Politik

Dass die deutsche Politik auch nach dem Kalten Krieg und der Wiedervereinigung nicht genug unternehme, um diesen Weg zu begehen, gab dem Panel Anlass zu Kritik. Schon bei der Rekrutierung von Fachpersonal tue sich Deutschland schwer. Zwar gebe es einige wenige herausstechende Persönlichkeiten wie Klaus Töpfer oder Inge Kaul, die Deutschland prominent in den Vereinten Nationen vertreten (haben). Klaus Töpfer war unter anderem von 1998 bis 2006 Exekutivdirektor des UNEP. Inge Kaul prägte im UNDP  die Entwicklung des Human Development Reports und war später Direktorin für den Bereich Development Studies (1995-2005). Auch zeigte Heidemarie Wieczorek-Zeul eine deutsche Vorreiterrolle, beispielsweise bei der Utsteingruppe, einer multilateralen Initiative zur Reform der Finanzierung von Entwicklungszusammenarbeit. Unterm Strich müsste sich Deutschland aber stärker darum bemühen, auf allen Etagen fachlich versiertes Personal unterzubringen. Hierzu mangele es an verlässlichen und attraktiven Karrieremöglichkeiten. Das Engagement bei den Vereinten Nationen würde selbst bei der Rückkehr nach Deutschland nicht belohnt und sei dadurch eben kein attraktives Sprungbrett.

Drastische Widersprüche sahen die Teilnehmer_innen auch zwischen Selbstdarstellung und Handeln. Deutschland präsentiere sich gerne als verlässlicher Partner. Dabei verweise die Regierung auch gerne auf seine Rolle als Gastgeberland am UN-Standort Bonn – so auch Guido Westerwelle in seiner Empfangsrede. Doch ist dieses Bekenntnis auch in anderen Staaten üblich und sagt noch nichts über das tatsächliche Engagement aus. Viel würde daran scheitern, dass sich Deutschland seit Jahren einseitig auf die Reform des Sicherheitsrates konzentriere und darüber andere wichtige (und realistische) Ziele vernachlässige. Die Bewerbung um den prestigeträchtigen Green Climate Fund beispielsweise fiel Reibungsverlusten zwischen den Ministerien zum Opfer, so Uschi Eid. Um Zustimmung zur Reformagenda des Sicherheitsrates zu erhalten, habe das Auswärtige Amt die Bewerbung als Standort des GCF unterminiert. Uschi Eid, stellvertretende Vorsitzende des Beratungsausschuss des UN-Generalsekretärs zu Wasser und Sanitärer Grundversorgung, sah den konstruktiven deutschen Beitrag bisweilen sogar unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Auch Jürgen Meier, Geschäftsführer des Forums Umwelt und Entwicklung, bemängelt fatale institutionelle Schwächen. Deutsche Finanzierungszusagen, beispielsweise zur Umsetzung der Biodiversitätskonvention (CBD), seien substanzlos und würden nicht eingehalten. Uschi Eid und Jürgen Maier befürchteten daher, dass ein stringentes Eintreten für strategische Ziele an Eitelkeiten und der Konkurrenz zwischen den Ministerien scheitert.

Jürgen Maier hatte gar den Eindruck, das Wirtschafts- und das Umweltministerium agierten völlig unkoordiniert – zum Teil auch gegeneinander. So habe der selbsternannte Klimavorreiter Deutschland kein Problem damit, Hermesbürgschaften für Kohlekraftwerke im Ausland zu vergeben. Auch im Exekutivrat der Weltbank stimme Deutschland regelmäßig für Projekte, die kaum mit umweltpolitischen Zielen vereinbar seien. Wenn Deutschland in internationalen Verhandlungen als Bremser auftrete schiebe es den schiebe es die Schuld auf die EU. Jürgen Maier nennt als Beispiel die zögerliche Haltung der EU beim Abschluss des Nagoya-Protokolls zur CBD, die auf deutsche Interessen zurückzuführen sei.

Der Blick auf die finanziellen Beiträge offenbart, dass Deutschland auch hier seine Hausaufgaben bislang nicht gemacht hat. Silke Weinlich vom Centre for Global Cooperation Research legte dar, dass Deutschland zwar der drittgrößte Beitragszahler in den regulären VN-Haushalt ist. Allerdings finanzierten sich Entwicklungspolitik und Umweltpolitik vorrangig aus zusätzlichen und damit aus freiwilligen Mitteln. Hier liege Deutschland gerade einmal im unteren Drittel der Top 10 (siehe auch den UN Funding Report von 2013 und UN-Basis-Info der DGVN). Silke Weinlich sah daher Luft nach oben, um das Bekenntnis zu einer multilateralen Nachhaltigkeitsagenda mit Leben zu füllen. Problematisch ist beispielsweise, dass 50% der Deutschen Mittel an die Vereinten Nationen zweckgebunden vergeben werden und den Institutionen daher nicht zur freien Planung zur Verfügung stehen. Der Großteil der Gelder werde nicht mehrjährig vergeben, so dass weitere Planungsunsicherheit bei den Vereinten Nationen entstehe. Den deutschen Etat für Entwicklungshilfe müssen sich die Vereinten Nationen zudem mit bilateralen Projekten, der Weltbank und der Entwicklungshilfe der EU teilen. Gerade einmal ein Drittel des Gesamtvolumens ist für die Vereinten Nationen vorgesehen. Im Bereich der Umweltpolitik seien ähnliche Probleme zu beobachten. Angesichts dieser Zahlen sei das Bekenntnis zum Multilateralismus deutlich zu relativieren, der deutsche Beitrag müsse qualitativ und quantitativ ausgebaut werden.

Doch sollte nicht vergessen werden: Es ist September 2013, ganz kurz vor der Bundestagswahl. Es war klar, dass Uschi Eid, die bis 2009 für die Grünen/Bündnis 90 im Bundestag saß, die Gelegenheit nutzte, um mit der Regierung ins Gericht zu gehen. Auch Jürgen Maier war früher aktiver Grüner, bis 1991 sogar im Bundesvorstand. Überzeugend war die Kritik trotzdem: Bis zu einer multilateralen und kohärenten Nachhaltigkeitspolitik, in der die Vereinten Nationen einen zentralen Platz erhalten, ist es noch ein weiter Weg. Insbesondere lasse es die deutsche Außenpolitik an strategischen Zielen vermissen, die auch ressortübergreifend koordiniert und „generalstabsmäßig“ verfolgt würden. Die Debatte um die post-2015-Entwicklungsagenda, in der soziale und ökologische Ziele zusammengedacht werden müssten, könnte dazu eine Chance bieten. Bislang muss die Bilanz jedoch ernüchternd ausfallen.

Gleichzeitig wurde vor überfrachteten Erwartungen an die Institutionen der VN gewarnt. Der schwerfällige Verwaltungsapparat stehe einer effektiven Umsetzung des Mandats der VN entgegen. Selbst wenn es vielerorts an der finanziellen Ausstattung mangele, seien solche Probleme zum Teil auch hausgemacht. Mehr Geld allein kann deshalb auch keine Lösung sein.

 

Nachhaltigkeitspolitik über Umwege?

Hier drängen sich Fragen danach auf, wie es in den nächsten 40 Jahren weitergehen soll. Doch leider beschäftigte sich das Panel nur am Rande mit den Zukunftsaussichten. Jürgen Maier dachte laut darüber nach, ob die Zusammenarbeit über parallele Strukturen jenseits der UN im Bereich der Entwicklungs- und Umweltpolitik zu besseren Ergebnissen führen könnte. Probleme multilateraler Kooperation seien auch im Bereich des Welthandels zu beobachten. So kommt die Doha-Runde der WTO seit Jahren nicht vom Fleck. Dagegen werden im Bereich des Welthandels solche Blockaden dadurch umgangen, dass auf bilateraler und regionaler Ebene weitreichende Handelsliberalisierungen beschlossen werden. Wenn man dies nun auf die Umwelt- und Entwicklungspolitik überträgt, muss darüber nachgedacht werden, ob Deutschland zur Umsetzung einer anspruchsvollen Nachhaltigkeitsagenda nicht eher weniger Multilateralismus im Rahmen der Vereinten Nationen wagen muss.

Dieser Weg über Building Blocks wird von der Politikwissenschaft auch am Beispiel der Klimapolitik diskutiert. Wenn ein globaler Deal scheitert, soll durch ein Nebeneinander von ambitionierten bilateralen und multilateralen Verträgen außerhalb der VN vorangeschritten werden. Doch ob dadurch ein dichtes Geflecht nachhaltiger Umwelt- und Entwicklungspolitik herausgebildet werden kann, ist skeptisch zu beurteilen. Während der Freihandel gerade von den wirtschaftlich starken Staaten als sehr attraktiv bewertet wird und diese entsprechend engagiert agieren, ist dies bei der Umwelt- und Entwicklungspolitik nicht unbedingt der Fall. Umwelt- und Entwicklungspolitik gelten vielen immer noch als wirtschaftspolitisches Hindernis. Daher ist eine Vorreiterrolle nur dann sinnvoll, wenn eine realistische Aussicht darauf besteht, dass andere wichtige Staaten folgen. Doch ist beispielsweise in der Klimapolitik kaum zu erwarten, dass die größten Emittenten China, USA und Indien in naher Zukunft eine radikale Kehrtwende vollziehen. In der Entwicklungspolitik wird es ja gerade – und zu Recht – bemängelt, dass der größere Teil der Gelder eben nicht multilateral vergeben wird. Zu groß ist hier die Gefahr, dass die Zuweisung von Mitteln reinen Wirtschaftsinteressen folgt und für einfache und erfolgversprechende Projekte verwendet wird. Die Staaten, die mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen haben, würden dabei möglicherweise das Nachsehen haben.

Einfache Lösungen sind daher nicht zu erwarten. Auch wenn andere Foren wie die G20 in Zukunft an Bedeutung gewinnen werden oder sich die Balance der Mächte zu Gunsten der BRICS-Staaten verschieben wird: die Vereinten Nationen bleiben der Ort, an dem alle Staaten vertreten sind und an gemeinsamen Lösungen arbeiten können. Es bleibt also das etwas schale Gefühl, dass die Entwicklungs- und Umweltpolitik auch in den nächsten 40 Jahren von Dilemmata und Inkohärenzen gekennzeichnet sein wird.

 

Panel 1: Lehren der deutschen UN-Politik im Bereich Umwelt, Entwicklung und Nachhaltigkeit, 19.09.2013, 9.30 Uhr

Referat: Silke Weinlich, Steffen Bauer

Discussants: Uschi Eid, Jürgen Maier

Moderation: Dagmar Dehmer

 

„Es gibt einen Grund zu feiern“ – Kommentare von den Jugenddelegierten Elise und Florian und DGVN-Präsidiumsmitglied Klaus Hüfner

Wir haben noch zwei weitere Kommentare während der DGVN-Fachtagung zu 40 Jahre Deutschland in den Vereinten Nationen gesammelt. 

Florian Nowack und Elise Zerrath, Jugenddelegierte 2013

Florian Nowack und Elise Zerrath, Jugenddelegierte 2013

„Es gibt einen ganz wichtigen Grund zu feiern. Deutschland ist 40 Jahre UN-Mitglied. Wir hoffen, dass wir heute auch 40 weitere Jahre feiern, in denen die UNO die jungen Menschen und die jungen Menschen die UNO wertschätzen. Die beidseitige Beziehung ist wichtig. Die UN soll im Leben von jungen Menschen wichtiger werden und die Relevanz der UN soll jungen Menschen einleuchten. Umgekehrt soll die UN erkennen, dass junge Menschen in ihren Strukturen einen Platz finden müssen, um die Herausforderungen der Zukunft zu lösen.“

Prof. Dr. Klaus Hüfner

Prof. Dr. Klaus Hüfner, Ehrenvorsitzender von WFUNA und Präsidiumsmitglied der DGVN

„Das Entscheidende ist, solche Jahrestage zu benutzen, um Bilanz zu ziehen und in die Zukunft zu schauen, was alles noch zu tun ist oder was besser gemacht werden kann. Da hätten wir ein großes Programm. Daher ist es sinnvoll, so wie wir 60 Jahre DGVN gefeiert haben, auch jetzt diese Veranstaltung zu haben.“

Wo sehen Sie den größten Verbesserungsbedarf für Deutschland?

„Indikatoren zeigen, dass das multilaterale Engagement im eigentlichen VN-Bereich viel zu niedrig ist. Deutschland müsste da eine stärkere Kohärenz in seiner Politik entwickeln. Diese ist zur Zeit auf eine Vielzahl von Bundesministerien ohne größere Abstimmung aufgeteilt.“

„Deutschland könnte mehr tun“ Ein Kurzinterview mit Andreas Zumach

Andreas Zumach ist seit 1988 freier Journalist am UN-Sitz in Genf.

Andreas Zumach

1) Ist die 40-jährige Mitgliedschaft Deutschlands in der UN ein Grund zum Feiern?

Es kommt darauf an, wie man feiert: Aus nostalgischer Verzückung, um Selbstlob zu üben, oder ob man überlegt, was in den nächsten 40 Jahren verbessert werden könnte und wie man konstruktiver mitmachen könnte, um die UN zu stärken

2) Wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?

Ich halte es für völlig verfehlt, dass sich die deutsche UN-Politik einseitig auf die Reform des Sicherheitsrates verengt hat und den Anspruch formuliert, einen eigenen Sitz mit Vetorecht zu erhalten. Darüber wurden viele andere Bereiche der UN-Reform vernachlässigt. Langsam setzt hier ein Umdenken ein, aber dies muss noch konsequenter erfolgen.

Die Beteiligung Deutschlands an völkerrechtswidrigen Kriegseinsätzen hat die Bindungswirkung des Gewaltverbots und damit die UN-Charta in seiner politischen und rechtlichen Wirkungsmacht ein Stück weit unterminiert. Mit dem Kosovokrieg 1999 und der Unterstützung des und der Beteiligung am Irakkrieg 2003 treten wir hinter eine zivilisatorische Errungenschaft nach dem zweiten Weltkrieg zurück.

Deutschland könnte mehr dafür tun, um unterhalb und außerhalb des Sicherheitsrates die Handlungsfähigkeit der UN zu stärken und damit die Herausforderungen, die Kofi Annan auch in seinem Reformbericht von 2005 benannt hat, angehen.

3) Wo ist Deutschland ein Musterknabe?

Ich sehe nicht, dass Deutschland ein Musterknabe ist. Deutschland handelt in manchen Punkten auch gegen die Interessen der UNO. Ein Beispiel sind die Rüstungsexporte. Hier ist Deutschland weltweit an dritter Stelle, mit steigenden Anteilen. Das steht im diametralen Gegensatz zu der Behauptung, dass wir uns für Abrüstung und friedliche Konfliktlösungen  einsetzen.

Zweitens gibt es Defizite im Bereich des Welthandels. Dies ist zwar nur ein Randaspekt des UN-Systems, hat aber Auswirkungen auf die Entwicklungsagenda der UNO. Ich nenne hier nur die Agrarsubventionen mit all ihren katastrophalen Folgen für beispielsweise die afrikanischen Staaten.

Und drittens könnte Deutschland mehr Ressourcen einsetzen. Das betrifft aktuell die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Syrien-Konflikt. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge bittet Europa darum mehr Menschen aufzunehmen, um die Hauptaufnahmeländer zu entlasten. Es ist schäbig und schändlich, dass die deutsche Regierung gerade mal 5.000 Flüchtlinge aufnehmen will. Auch wenn es um Fragen des Peacekeeping geht, sollte Deutschland dringend benötigtes Material und Soldaten/-innen oder anderes Personal zur Verfügung stellen.

„Ein einzigartiges Forum“ – Kurzinterview mit Prof. Dr. Hans-Joachim Vergau

Prof. Dr. Hans-Joachim Vergau, war unter anderem zehn Jahre in leitender Funktion an der deutschen UN-Vertretung in New York.

 

1.)  40 Jahre VN-Mitgliedschaft. Ist das ein Grund zum Feiern?

 Ja.   Die VN vollziehen 1973 einen wesentlichen Schritt in Richtung Universalität der Gemeinschaft der Mitglieder. Sie setzen sich hinweg über die internationale Ächtung, die Deutschland durch die 1933 bis 1945 begangenen Verbrechen auf sich geladen hat. Endgültig wird demonstriert, dass die Feindstaatenklauseln in Art. 53 und Art. 107 der VN-Charta obsolet sind.

Die VN-Mitgliedschaft öffnete für die deutsche Seite ein einzigartiges Forum, seine Anliegen international zur Geltung zu bringen.

2.)  Wo ist Deutschland ein „Musterknabe“?

Zum regulären VN-Haushalt und zu den Budgets für friedenserhaltende Maßnahmen ist Deutschland drittstärkster Beitragszahler und leistet seine Zahlungen stets pünktlich. Seit 1990 stellt Deutschland Streitkräfte für VN-mandatierte Einsätze, zurzeit 6000 Menschen, und stellt in hohem Maße Zivilpersonal für friedenserhaltende Maßnahmen bereit. Deutschland hat wesentlich beigetragen zu Fortschritten im Seerecht und hat den Internationalen Seerechtsgerichtshof in Hamburg aufgenommen. Ferner ist Deutschland Gastgeber für zahlreiche VN-Institutionen in Bonn. Deutschland hatte eine maßgebende Rolle bei der Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs. Das deutsche Engagement zeichnet sich durch die wesentliche Mitwirkung am Verhandlungsprozess zur Befreiung Namibia 1977-90 aus. Auch die Hereinholung von Jugendlichen möchte ich nennen.

3.)  Wo gibt es Nachholbedarf?

 In recht vielen Bereichen.

Zum Beispiel: Deutschland stellt zu wenig Personal an führenden Stellen im VN-Sekretariat und in sonstigen VN-Institutionen. Die sachliche Darstellung der VN in den deutschen Medien ist mangelhaft. Deutschland sollte als Tagungsort überragend wichtiger VN-Weltkonferenzen hervortreten. (1993 hätte die dann nach Wien gegebene Weltkonferenz über Menschenrechte mit Sicherheit nach Berlin geholt werden können; sie wurde als zu teuer abgelehnt.)

„Deutschland ist bereit für das Bohren dicker Bretter“ – Karl Walter Lewalter, Botschafter a.D., zur deutschen VN-Politik

Der Nachmittag der gestrigen Fachtagung gehörte dem Rückblick auf 40 Jahre deutsche Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Kontrovers ging es gegen Abend zu: Johannes Varwick präsentierte in seinem Referat zu Deutschland als UN-Mitglied 1990 bis heute mitnichten trockene Fakten und Zahlen. „Der VN-freundliche Tenor der Bundesrepublik Deutschland hat sich über die letzten Jahrzehnte nicht geändert“, sagte Varwick, „aber das reicht nicht“. Von Deutschland als relevanter Mittelmacht werde erwartet, dass es verstärkt auch bei kontroversen Themen Akzente setze, sich positioniere und Initiative ergreife. Finanzielle Beiträge reichten nicht aus, die Bundesrepublik müsse praktische Taten folgen lassen. Als Beispiel nannte er Deutschlands Beteiligung an Friedensmissionen: Deutsches Personal sollte in substantieller Größenordnung auch in VN-geführten, nicht nur in VN-mandatierten Missionen eingesetzt werden. Mit einem Zitat Theodor Paschkes lässt sich viel von Varwicks Kritik zusammenfassen: „Wir klotzen nirgends, weil wir überall kleckern.“

Lewalter

Zu der Frage, ob Deutschland mehr leisten muss in den Vereinten Nationen und wie sich die Bundesrepublik in der Vergangenheit eingebracht hat, haben wir Karl Walter Lewalter, ehemaliger Botschafter bei der Ständigen Vertretung Deutschlands bei den Vereinten Nationen in Genf (1998-2003) und Präsidiumsmitglied der DGVN, am Rande der Veranstaltung interviewt.

Aus Ihrer Erfahrung als Praktiker: Ist Deutschland „Musterknabe“ in den Vereinten Nationen? Welchen Blick haben Sie durch Ihre Arbeit in Genf erlangt?

Ich zögere bei dem Wort „Musterknaben“ etwas, das wäre vielleicht zuviel Eigenlob. Aber wir haben uns kontinuierlich bemüht, in unserer Politik nicht nur die Perspektive eines europäischen Industriestaates in die Vereinten Nationen hineinzutragen, sondern unterschiedlichste Interessen zusammenzuführen und Kompromisse möglich zu machen. In Genf etwa haben wir uns bei verschiedenen Projekten zu Resolutionen – etwa in der damaligen Menschenrechtskommission – auch durchaus immer wieder Partner aus dem Süden gesucht. Das betraf zum Beispiel Projekte aus dem Bereich der sozialen und kulturellen Rechte. Das waren natürlich Einzellösungen, aber auch so baut man Brücken. Es zeigt auch, dass wir versucht haben, nicht das klassische europäische Bild zu projizieren, sondern uns in den Vereinten Nationen eine zukunftsfähige Haltung zu erarbeiten.

Mary Robinson hat neben lobenden Worten für Deutschland auch gefordert, leadership zu zeigen, „boldly and duly“. Muss Deutschland auch angesichts seiner wichtigen Rolle in Europa in den Vereinten Nationen mehr Führungsverantwortung übernehmen?

Mary Robinson hat einen sehr positiven Eindruck von der deutschen VN-Politik, die sich vor allem auch auf ihre Genfer Erfahrung gründet. Ich meine, wir müssen etwas bescheiden sein und dürfen uns selber die Latte nicht zu hoch legen. Vor allem aber müssen wir mit langfristiger Perspektive arbeiten. In der Zeit des geteilten Deutschlands ging es häufig um kurzfristige Lösungen. Von dieser Last der Vergangenheit sind wir jetzt befreit und damit auch bereit für das Bohren dicker Bretter. Wir können uns also durchaus viel vornehmen. Aber ich glaube, diese Programme dürfen nicht kurzfristigen Tests unterzogen werden, um ihren Erfolg zu messen. Im vereinten Europa können wir uns dafür einsetzen, dass andere europäische Partner mit uns gemeinsam eine stärkere Rolle für eine zukunftsfähige Arbeit in den Vereinten Nationen einnehmen. Aber Deutschland alleine darf sich da nicht überschätzen.

Also das Bohren dicker Bretter, aber nur gemeinsam mit Partnern?

Ja. Dicke Bretter in langfristiger Perspektive. Ein schönes Beispiel aus den vergangenen Jahrzehnten ist etwa die Abschaffung der Todesstrafe. Das war ein hochgestecktes Ziel, welches von unseren Partnern zunächst eher belächelt wurde. Aber wir haben dieses Ziel konsequent über die Jahre hinweg verfolgt und schauen Sie, wo wir heute stehen. Solche Ziele kann man sich setzen. Aber man darf den Erfolg einer langfristigen Politik nicht in Generalversammlungen oder Legislaturperioden messen.

Was ist heute die größte Herausforderung, der sich Deutschland in den Vereinten Nationen stellen muss?

Deutschland muss gemeinsam mit Partnern eine vernünftige Auslegung der Responsibility to Protect entwickeln. Ich meine, wir greifen immer zu schnell zum letzten Mittel. Deswegen müssen wir stärker an der Prävention arbeiten, aber auch an Alternativen zu kriegerischen Maßnahmen, zum Beispiel effektiveren Sanktionen.

Das Interview führte Hannah Birkenkötter