Mit einer App gegen den Welthunger?

Ein etwas polemischer Zwischenruf

von Carolin Anthes

Fast zu schön um wahr zu sein: „Du hast etwas gegen den Hunger in der Welt. Dein Smartphone.“ – „Hunger beenden mit einer App und der UNO: mit nur 40 Cent!“ Bitte wie? ShareTheMeal, eine Initiative und Non-Profit-App in Partnerschaft mit dem UN Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP), ermöglicht es Smartphone Usern mit einer Spende von nur 40 Cent „Mahlzeiten mit einem Kind in Not zu teilen“. Im Klartext heißt das: Ein hungerndes Kind wird mithilfe dieser 40 Cent einen Tag lang im Rahmen von Schulspeisungen durch das WFP ernährt. Zielland ist aktuell Lesotho im Süden des afrikanischen Kontinents.

Seit dem deutschlandweiten Launch der App – deren Wiege in der Berliner Gründerszene liegt – überschlagen sich einschlägige Medien mit Lobeshymnen. ZEIT Wissen spricht von einer „brillanten Idee“, das Start-Up-Magazin The Hundert sieht hier eines von 100 aufstrebenden deutschen Start-Ups am Werk und WIRED Deutschland zeichnet ShareTheMeal als eine von „15 Ideen für eine bessere Welt 2015“ aus (siehe Facebook-Seite von ShareTheMeal). Die Ambitionen der Erfinder sind schließlich auch beeindruckend. Sie wollen nichts Geringeres als “den weltweiten Hunger möglichst effizient und effektiv [zu] bekämpfen“ und ihn damit „für immer beenden“.

So sehr ich die Vision, das Ziel und das Engagement der Köpfe, die hinter der App stecken, schätze und teile, so naheliegend sind für mich einige große und sehr plastische Fragezeichen.

Ursachenanalyse: Wer hungert und wieso?

Zählt man die an „verborgenem Hunger“ d.h. an Mikronährstoffmangel leidenden Menschen mit, hungern aktuell weltweit zwei Milliarden Menschen. Wenn wir den Welthunger effektiv und damit für immer beenden wollen, ist die erste zentrale Frage, worin er wurzelt, was die zugrundeliegenden Ursachen und Strukturen sind, die dauerhaft einem Drittel der Weltbevölkerung die angemessene Ernährung verwehren. Mittlerweile sind detaillierte Ursachenanalysen allgemein zugänglich – jede_r von uns kann sich mit nur ein paar Mausklicks darüber informieren und vor Augen führen, dass wir eigentlich über ausreichende Ressourcen verfügen, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Die chronische Welternährungskrise ist also keinem Mangel an Nahrungsmitteln geschuldet – was die einflussreichen Agrarkonzerne mit ihrem Fokus auf Produktivitätssteigerungen mittels exportorientierter, industrieller Landwirtschaft verschweigen – sondern u.a. Folge der Unterdrückung und Marginalisierung bestimmter Personengruppen, die in Armut leben und unter historisch nachzeichenbarer Verteilungsungerechtigkeit leiden. Die Hungernden haben teils über Generationen hinweg keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung und produktiven Ressourcen, wie Land, Saatgut, Krediten oder zu zusätzlichem Einkommen. Sie können somit als Kleinbauern weder ausreichend Nahrung für sich selbst anbauen, noch auf den Märkten kaufen. Schätzungen zufolge leben dabei 80% der weltweit Hungernden im ländlichen Raum und sind Kleinbäuer_innen, Landlose, Fischer_innen, Jäger_innen und Hirt_innen, darunter in großer Mehrheit Frauen (70%). Indigene Völker sind ebenfalls vielfach betroffen. Was sie alle oftmals eint ist die Erfahrung von Landenteignungen, Vertreibungen, Diskriminierung, Machtlosigkeit und mangelndem politischen Einfluss. Weder Politik noch Wirtschaft haben in den vergangenen Jahrzehnten effektive Maßnahmen zum Abbau dieser Marginalisierung umgesetzt, stattdessen ist der Status quo durch verfehlte und schlichtweg ungerechte globale und nationalstaatliche Handels-, Agrar-, und Finanzpolitik zementiert worden.

Wenn wir uns dies vor Augen halten und begreifen, dass der chronische Hunger in unserer Welt strukturellen Ursachen von politischer, sozialer und ökonomischer Dimension geschuldet ist, dann stellt sich die Frage, wie über eine Spenden-App diese Strukturen „effektiv und effizient“ angegangen werden sollen. So sehr ich mit Brechts Keuner-Zitat „Eher nämlich wird ein Gebirge durch eine einzige Ameise beseitigt als durch das Gerücht, es sei nicht zu beseitigen” sympathisiere, so eindeutig bin ich geneigt festzustellen, dass ShareTheMeal dem zu kurz greifenden Paradigma der Symptombekämpfung verhaftet bleibt. Tatsächlich angezeigt ist stattdessen ein massiver Ruck, der durch die internationale und nationale Politik gehen muss, das im (Völker-)recht verankerte Menschenrecht auf angemessene Nahrung eines jeden Menschen in der Praxis zu garantieren. Diese Forderung geht weit über freiwillige, punktuelle und höchst volatile Spenden via privater Smartphones hinaus.

Globale Öffentlichkeit aber kein Verpflichtungsgefühl

Sicherlich könnte man argumentieren, dass hier mittels Smartphone-Nutzung und der damit einhergehenden Social Media-Vernetzung eine neue, globale Öffentlichkeit angeregt wird, ihren Teil dazu beizutragen, das Hungerproblem zu lösen. Möglich ist, dass die ShareTheMeal App mehr Aufmerksamkeit – auch gerade einer jüngeren Zielgruppe – auf das globale Hungerproblem lenkt und vielleicht sogar eine neue Form von kosmopolitischer Solidaritätsbekundung darstellt. Mit jedem Klick, mit jeden gespendeten 40 Cent zeige ich auch, dass ich das Problem und meine eigene Verantwortung anerkenne und nicht mehr ignoriere.

Die Kundenrezensionen bei amazon.de, wo die App kostenlos zum Download zur Verfügung steht, sprechen allerdings eine dezent andere Sprache: „Schnell kann man mal für einen beliebigen Zeitraum ein Kind mit zwei Mahlzeiten versorgen, ohne irgendwelche Verpflichtungen einzugehen“ – oder: „Funktioniert ganz einfach und mit kleinen Beiträgen, die nicht wehtun, immer dann, wenn einem gerade danach ist, etwas zu teilen.“ Hieraus spricht nicht gerade ein dauerhaftes Verantwortlichkeits- oder Verpflichtungsgefühl der User. Und das, obwohl ShareTheMeal in den FAQ deutlich macht: „Mithilfe Deiner Spende werden Kinder ernährt, die sonst keine Mahlzeiten bekommen würden.“ Ein User beschwert sich über die Datengröße der App und kommentiert lapidar: „Da bleiben die Kinder eben hungrig, wenn die App schon alles verschlingt.“

Zur nachhaltigen Hungerbekämpfung bedarf es mehr

Die App gehorcht eben auch den Gesetzen des Market(ing)s und muss Spaß machen, keinesfalls anklagen oder ein schlechtes Gefühl auslösen. Sie arbeitet mit einem Belohnungssystem, das mich ein wenig an die Tamagotchis der 90er Jahre erinnert, die man auch per Knopfdruck alle paar Stunden füttern musste. Nach dem Klick sehe ich ein Foto von glücklichen Kindern in Lesotho. Dabei vermeidet es die App darauf einzugehen, warum es die hungernden Kinder überhaupt gibt, mit denen ich meine Pizza, mein argentinisches Rumpsteak oder meinen Zander in Safranjus „teile“ (was sich dann in der Praxis in Maisbrei übersetzt). Was in der Welt schief läuft. Wie mein Wohlstand extrem eng mit den Verhältnissen im fernen Lesotho verknüpft ist. Und wie ich z.B. als Konsumentin Druck auf Politik und Wirtschaft ausüben könnte. Oder aufgeklärt werden könnte, wie viel Prozent der produzierten Nahrungsmittel wir im globalen Norden verschwenden und ungenutzt wegwerfen. Stattdessen darf ich mein Gewissen per Klick erleichtern und mich, wenn mir der Sinn danach steht, auch gerne noch auf Facebook selbst inszenieren: „Wie sieht Euer ShareTheMeal-Moment aus? Postet ein Foto für unser neues Facebook Album #ShareTheMeal“. Ist eine solche Selbstinszenierung tatsächlich der Weg, „den Kampf gegen den Welthunger [zu] revolutionieren“?

Zur nachhaltigen Hungerbekämpfung bedarf es mehr. Mehr auf den Ursachenanalysen aufbauendes Handeln von politischen Entscheidungsträgern ebenso wie von uns Konsument_innen. Mehr auf Dauer angelegtes Engagement, aus der Erkenntnis heraus, dass hungernde Kinder kein Fall für Wohltätigkeit sind, sondern für verpflichtendes Handeln von Staaten, Unternehmen und letztlich auch uns selbst. Hieran führt kein Weg vorbei. Eine Welt ohne Hunger ist nicht ohne wirkliche Anstrengung und ein konsequentes, kritisches Hinterfragen unseres eigenen Lebensstils und dessen historischen sowie systemischen Grundlagen zu haben. Dazu bedarf es (leider) mehr als eines Smartphones in der Hand.

(Alle Zitate sind der ShareTheMeal-App selbst bzw. ihrer Website, Facebook- oder amazon.de-Seite entnommen.)

Die skandalöse Unterfinanzierung des UN-Menschenrechtspfeilers

von Carolin Anthes

Kofi Annan hat einmal pointiert bemerkt, dass es ohne Entwicklung keinen Frieden geben wird, ohne Frieden keine Entwicklung und beides nicht ohne Respekt für Menschenrechte. Er nahm hier Bezug auf die drei sich wechselseitig stützenden Hauptpfeiler und Aufgabenbereiche der Vereinten Nationen: Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte. 1945, im Jahr der Gründung der UN, war der dritte Pfeiler nur eine Idee ohne konkreten Bauplan. Zwar erhebt die UN-Charta die Achtung der Menschenrechte zu einem Ziel der Organisation, doch lag die Priorität der Nachkriegsordnung auf der Friedenssicherung, die losgelöst von den anderen Pfeilern gedacht wurde. Es brauchte viele Jahrzehnte der mühsamen Bautätigkeit, bis das Menschenrechtssystem tatsächlich zu einem eigenen Pfeiler herangewachsen war. Dieser junge Pfeiler droht nun angesichts der sich verschärfenden Aufgabenlast bei gleichbleibend drastischer Unterfinanzierung zu zerbröckeln.

Die Jahre seit Ende des Kalten Krieges zeugen von einer immer festeren Verankerung dieses Pfeilers im Fundament der UN: 1993 wurde das Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf (Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR) geschaffen, dessen Tätigkeitsbereiche sich seither stetig ausgeweitet haben. Mittlerweile sind Förderung und Schutz der universellen Menschenrechte ins Zentrum der Anstrengungen für eine friedliche Welt und geteilten Wohlstand gerückt. Hierfür stehen institutionelle Reformstrategien, wie das Human Rights Mainstreaming, also die Verankerung der Menschenrechte in der gesamten Organisation, mit dem das OHCHR federführend betraut ist. Friedensmissionen sind heute ohne Menschenrechtskomponente undenkbar. Entwicklungsprogramme werden menschenrechtsbasiert entwickelt und umgesetzt. Wir beobachten auch in der UN-Praxis ganz im Sinne Annans eine immer stärkere Verzahnung der drei Grundpfeiler und einen „surge of interest in human rights issues“, so der neue Hochkommissar Zeid Ra’ad Al Hussein.

UN High Commissioner Zeid (UN Photo / Jean-Marc Ferré)

UN High Commissioner for Human Rights Zeid Ra’ad Al Hussein (UN Photo / Jean-Marc Ferré)

Drastische Unterfinanzierung: „I have to say I am shocked.“ (Zeid)

Umso fassungsloser fällt das Kopfschütteln aus, das der Blick auf die finanzielle Ausstattung des Menschenrechtspfeilers auslöst: von Gleichberechtigung keine Spur! Er wird im Gegensatz zu den anderen beiden Pfeilern nur mit einem winzigen Anteil des regulären UN-Budgets bedacht – mageren 3 Prozent. Zudem ist nur ein Drittel der OHCHR-Ausgaben von diesem regulären Haushalt gedeckt, der Rest muss durch freiwillige und damit höchst volatile Zuwendungen bestritten werden (im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 kam es hier wenig überraschend zu starken Einbußen). Für 2014-2015 wendet die UN also für den Kern ihrer Menschenrechtsarbeit jährlich lächerliche 87 Millionen USD auf – de facto 87 Prozent weniger als für ‚Frieden und Sicherheit’ sowie 84 Prozent weniger als für ‚Entwicklung’. Oder, wie es der Hochkommissar in einer Pressekonferenz in Genf plastisch formulierte: die Bevölkerung der Schweiz gibt jährlich zehnmal so viel für Schokolade aus.

Nun taugt die chronische Unterfinanzierung der Weltorganisation kaum als Neuigkeit, aber die soeben dargestellte inhärente und massive Schieflage beim Zuteilen der vorhandenen Gelder ist mit Blick auf die kontinuierlich steigenden Erwartungen an das Menschenrechtssystem schlichtweg skandalös. Der Hochkommissar ermahnte die Generalversammlung im Oktober 2014 in New York aus gutem Grund: „Excellencies, a stool with one leg so vastly shorter than the others cannot possibly bear the weight of dramatically increasing global expectations.“

Beeindruckende und begrüßenswerte Ausweitung der Aufgaben

Allen Skeptikern eines gestiegenen Finanzbedarfs des Menschenrechtspfeilers sei dringend ein Blick in den OHCHR Report 2013, den letzten Rechenschaftsbericht und den OHCHR Management Plan 2014-2017, der die Vorhaben der nächsten vier Jahre operationalisiert, angeraten. In sechs ausgefeilten thematischen Prioritäten wird eine enge Verzahnung mit den anderen Aufgabenfeldern der UN vorangetrieben, die notwendig ist, um die Arbeit der Vereinten Nationen als Ganzes effektiver zu gestalten.

OHCHR übernimmt zudem im Rahmen des Mainstreaming eine zentrale Rolle in der vor einem Jahr auf den Weg gebrachten vielversprechenden Human Rights Up Front-Initiative des Generalsekretärs, die versucht die Präventions- und Reaktionsfähigkeit des UN-Systems bei massiven Menschenrechtsverletzungen nach mehrfachem systematischen Versagen (Ruanda, Srebrenica, Sri Lanka etc.) zu verbessern.

Gerade der Wille zur entschiedenen Reaktion auf sich abzeichnende oder bereits reale Menschenrechtskrisen hat in den vergangenen Jahren einen weiteren Trend hin zu so genannten Fact-Finding Missions und Commissions of Inquiry (CoI) ausgelöst. Diese vom Menschenrechts- oder Sicherheitsrat mandatierten Missionen werden vom OHCHR durchgeführt und tragen durch unabhängige, unparteiische und detaillierte Beobachtung, Analyse und Dokumentation dazu bei, menschenrechtliche Krisenherde bis in den letzten zugänglichen Winkel auszuleuchten und somit Handlungsdruck aufzubauen (prominente Beispiele sind Sudan, Syrien und Nordkorea). Dass dies keine bloße Worthülse ist, beweist die CoI zu Nordkorea, die im Februar 2014 ihren detaillierten Abschlussbericht vorlegte, der weitreichende und systematische Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Infolge der Veröffentlichung hat die UN-Generalversammlung im Dezember eine Resolution verabschiedet und erstmalig den Sicherheitsrat aufgefordert, den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu übergeben. Trotz des nicht völkerrechtlich bindenden Charakters der GA-Resolution zeigte sich das Regime in Pjöngjang im Vorfeld beeindruckt und versuchte, die in der Resolution enthaltene direkte Referenz auf den „Supreme Leader“ und dessen Verantwortlichkeit für die Gräueltaten zu verhindern. Der Sicherheitsrat hat sich inzwischen – entgegen dem Votum Chinas – in einem umkämpften Briefing mit dem Bericht der CoI und damit zum ersten Mal dezidiert mit der Menschenrechtslage in Nordkorea befasst.

Die paradoxe Situation muss gelöst werden

Dieses Schlaglicht auf die anwachsenden Commissions of Inquiry verweist auf nur einen von sehr vielen weiteren expandierenden und für die gesamte UN relevanten Aktionsbereichen, die das OHCHR an die Grenzen seiner Belastungsfähigkeit bringen (weitere Beispiele sind das wachsende Treaty Bodies System und die steigende Anzahl der Special Procedures, sowie der Sondersitzungen des Menschenrechtsrats). Bereits Navi Pillay, die ehemalige Hochkommissarin, hatte dringlich darauf verwiesen, dass das Hochkommissariat viele Anfragen zur Unterstützung und zum Aufbau von menschenrechtsbezogenen Kapazitäten von Mitgliedstaaten ablehnen müsse, da schlicht die finanziellen Mittel und das Personal fehlten. Ihrem Nachfolger bleibt nichts anderes übrig, als dies gebetsmühlenartig zu wiederholen. Wir beobachten also im Bereich des UN-Menschenrechtspfeilers eine paradoxe Situation, in der ein verstärkter Anreiz vieler Staaten, zu einem effektiveren internationalen Menschenrechtsschutzsystem beizutragen, in der Praxis an mangelnden finanziellen Ressourcen zu zerbrechen droht.

Die Generalversammlung hat keine Wahl – sie muss das reguläre Budget anpassen und den Menschenrechtspfeiler ihrer Organisation vor dem Kollaps bewahren. Bestehende Initiativen, zum Beispiel den Budgetanteil auf anfänglich 5% anzuheben, müssen auch von Deutschland vehement unterstützt werden, das sich die Förderung der Menschenrechte groß auf die Fahnen geschrieben hat und seit dem 1. Januar 2015 nun auch dem Menschenrechtsrat in Genf vorsitzt. Politischer Wille und entschiedenes Lobbying sind gefragt. Ein Gebäude kann nur dann Menschen sicheren Schutz bieten, wenn es von starken Pfeilern getragen wird. Solch starke Pfeiler sollten uns mindestens ebenso viel wert sein wie gute Schweizer Schokolade.

Bewirken die VN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte eine stärkere Einheitlichkeit der menschenrechtsbezogenen Regeln für transnationale Unternehmen?

Nächster Teil unserer Serie zum 4. UN-Forschungskolloquium.

von Thurid Bahr

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Internationale Organisationen und Politikfelder der Unversität Potsdam

Die Regulierung transnationaler Unternehmen (TNUs) über Ländergrenzen hinweg steht seit den 1960er Jahren auf der Agenda internationaler Organisationen (Ronit 2011). In der Vergangenheit wurde zumeist über die Vereinten Nationen (VN) versucht, TNUs zu regulieren. Bis vor kurzem waren diese Versuche jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Sogar eine rechtlich nicht verpflichtende Erklärung schien unerreichbar. Gute Nachrichten aus der Unternehmenswelt waren gleichermaßen selten. Als beispielhaft für die Kritik an TNUs gelten die in den 1990er Jahren aufgekommenen Vorwürfe, Shell würde angesichts von Menschrechtsverletzungen in Nigeria schweigen, oder dass Nike von Kinderarbeit in seinen Zuliefererketten profitiere.

Bis heute sind die internationalen Regeln für Unternehmen eher bruchstückhaft denn flächendeckend. Die jüngste Regulierungsinitiative, das VN-Rahmenkonzept und die dazugehörigen Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, stehen beispielhaft für die Grenzen der Steuerungsmöglichkeiten von Global Governance im Allgemeinen und der Regulierung von TNUs im Besonderen. Sie stellen einen Versuch dar, negative Auswirkungen unternehmerischer Tätigkeit auf die Achtung der Menschenrechte anzugehen.

Die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen und die Safeguard Policies/Sustainability Framework der Internationale Finance Corporation sind zwei Beispiele für den Versuch der Regulierung von TNUs durch internationale Organisationen. Seit den 1990er Jahren wird dieser Trend zunehmenden durch Formen der Regulierung mit TNUs ersetzt. Hier können verschiedene sog. „Multistakeholder Initiativen“ zwischen Staaten und nicht-staatlichen Akteuren (z.B. Unternehmen) genannt werden, beispielsweise die Äquatorprinzipien für Finanzinstitute, oder die freiwilligen Grundsätze zu Sicherheit und Menschenrechten (Voluntary Principles on Security and Human Rights).

2005 ernannte die damalige Menschenrechtskommission der VN einen Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für Wirtschaft und Menschenrechte: John G. Ruggie, einen Professor der Harvard Universität. Sein Auftrag war zunächst, die jeweiligen Verantwortlichkeiten von Staaten und TNUs mit Blick auf Menschenrechte zu benennen und zu klären. Zudem veröffentlichte Ruggie ein Rahmenkonzept für Wirtschaft und Menschenrechte, sowie entsprechende Leitprinzipien zu seiner Umsetzung, welche 2011 vom VN-Menschenrechtsrat einstimmig angenommen wurden (Human Rights Council 2011).

Die staatliche Verantwortung zum Schutz vor Menschenrechtsverletzungen, auch jene, die durch Unternehmen verursacht wurden, wird durch das Menschenrechtsregime geregelt. Jedoch unterscheiden sich nationale Gesetzgebungen, die unternehmerische Tätigkeit in Bezug auf Menschenrechte regeln, stark voneinander. Überdies werden TNUs in der Regel nicht als Völkerrechtssubjekte angesehen, obwohl sich die Reichweite nationaler Gesetze meist auf das Territorium des gesetzgebenden Staates beschränkt. Zudem wird eine Sanktionierung der Menschenrechtsverletzungen durch TNUs bisher nicht über die Instrumentarien der internationalen Strafgerichtsbarkeit gewährleistet. So entstehen internationale Regulierungslücken (Ruggie 2014: 9).

Diese Lücken können internationale Organisationen nicht ohne weiteres ausfüllen, da ihnen das entsprechende Mandat fehlt, um für TNUs verbindliche Regeln zu setzen oder diese zu sanktionieren. Aus ähnlichen Gründen können Multistakeholder Initiativen dies eben so wenig leisten. Wo unterschiedliche Formen von Governance und unterschiedliche Rechtsgebiete (beispielsweise Außenhandelsförderung und Gesetzgebung zur Umsetzung internationaler Menschenrechtsverpflichtungen) in Widerspruch stehen, kommt es zu einer Fragmentierung des Governance Systems im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte. Daher ist das Hauptziel des VN Rahmenkonzepts und der Leitprinzipien, eine Konsistenz unterschiedlicher Regelwerke herbeizuführen. Sie zielen nicht darauf ab, rechtlich verbindliche Verpflichtungen für TNUs zu schaffen.

Das Rahmenkonzept und die Leitprinzipien versuchen, richtungsweisende Vorgaben für Staaten und Unternehmen, vor allem TNUs, zu machen. Welchen Einfluss haben sie auf inhaltliche Kohärenz im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte? Dieser Blogeintrag gibt ein Beispiel für die Untersuchung der Frage, ob das Rahmenkonzept und die Leitprinzipien existierende Regelungen eher zusammenbringen werden, oder weiter auseinanderbrechen lassen. Im Folgenden wird eine eigene empirische Untersuchung vorgestellt, die das Konzept des Fragmentierungsgrads als theoretisches Werkzeug nutzt, um diese Frage empirisch zu beantworten.

Drei Jahre nach der Zustimmung des Menschenrechtsrats zum Rahmenkonzept und den Leitprinzipien zeigt sich ein Trend zu weniger Fragmentierung des Governance Systems für Wirtschaft und Menschenrechte. Die in diesem Blogeintrag vorgestellte eigene empirische Untersuchung von vier Regulierungsinitiativen internationaler Organisationen und vier Multistakeholder Initiativen in den Zeiträumen 2003-2010 und 2011-2014 ergab, dass der Fragmentierungsgrad im Bereich Wirtschaft und Menschenrechte nach der Verabschiedung der Leitprinzipien geringer war als vorher. Die Inhalte ehemals dissoziierter Policy-Dokumente und Multistakeholder Initiativen verweisen über die Zeit verstärkt auf das Rahmenwerk und die Leitprinzipien. Selbst einige Regulierungsinitiativen außerhalb des VN-Systems beziehen sich nun auf die beiden Dokumente als maßgebliche Standards.

Analysiert wurden die Inhalte der ILO-Erklärung über die Grundprinzipien und Rechte am Arbeitsplatz, die OECD-Leitlinien für multinationale Unternehmen, das IFC Safeguard Policies/Sustainability Framework, das Green Paper der EU zu Corporate Social Responsibility und seine Nachfolgerdokumente sowie auf Seiten der Multistakeholder Initiativen die Äquator Prinzipien, die freiwilligen Grundsätze zu Sicherheit und Menschenrechten, die Sustainability Reporting Guidelines der Global Reporting Initiative, und das Zertifizierungsschema SA8000 von Social Accountability International.

Die Untersuchung zeigt, dass 2014 alle Initiativen mit Ausnahme der ILO-Erklärung eine unternehmerische Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte anerkennen, wohingegen dies während des ersten Untersuchungszeitraums nicht durchweg beobachtet werden konnte. Dies könnte ein Hinweis für eine stärker werdende Norm unternehmerischer Verantwortung sein. Indem die unterschiedlichen Akteure über gemeinsame Initiativen auf ein einheitliches Regelwerk verweisen können, so wird im vorliegenden Beitrag angenommen, verringert sich der Grad der Fragmentierung im Bereich Wirtschaft und Menschrechte. Ein Hinweis auf Konvergenz besteht also insofern, als die untersuchten Initiativen vermehrt auf eine einzelne Richtlinie verweisen und nicht nur die Verbindung zwischen den Akteuren, sondern auch die Verbindlichkeit erhöht wird. Beispielsweise verweisen die OECD-Leitlinien nach 2011 direkt auf die Leitprinzipien als eine autoritative Quelle zu Fragen rund um die unternehmerische Verantwortung für die Achtung der Menschrechte. Ihnen wurde im Rahmen einer Überarbeitung sogar ein gänzliches neues Kapitel zum Thema Menschenrechte hinzugefügt. Und auch Multistakeholder Initiativen wie die Äquator Prinzipien oder die Sustainability Reporting Guidelines der Global Reporting Initiative beziehen sich entweder sinngemäß oder wörtlich auf die Leitprinzipien.

Natürlich sind diese Ergebnisse mit Vorsicht zu genießen: dass ein geringerer Fragmentierungsgrad mit der Verabschiedung der Leitprinzipien zusammenfällt bedeutet nicht, dass letztere die Ursache für mehr Konvergenz ist. Die Ergebnisse machen jedoch weitere Forschung zu den Ursachen besonders spannend. Inzwischen erscheint die Schlussfolgerung zulässig, dass die menschenrechtsbezogenen Regeln für TNUs heute einheitlicher sind als noch vor zehn Jahren.

Human Rights Council 2011: A/HRC/Res/17/4 Human Rights and Transnational Corporations and Other Business Enterprises : Resolution / Adopted by the Human Rights Council, Geneva.

Ronit, Karsten 2011: Transnational Corporations and the Regulation of Business at the Global Level, in: Reinalda, Bob (Ed.): The Ashgate Research Companion to Non-State Actors, Farnham, 75-87.

Ruggie, John G. 2014: Global Governance and „New Governance Theory“: Lessons from Business and Human Rights, in: Global Governance 20, 5-17.

Menschenrechte als offene Ordnungsstruktur. Möglichkeiten und Grenzen einer Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik.

von Hannah Birkenkötter

Können die Menschenrechte als Struktur für die internationale Ordnung dienen? Dies war letztlich die Hauptfrage des zweiten Panels. Wenn also im Folgenden vor allem schlaglichtartig einige Kernthesen der Redner (und das ist hier nicht als generisches Maskulinum eingesetzt – aber dazu in einem späteren Post mehr) aufgezeigt werden, statt alle Punkte im Detail zu rekapitulieren, dann geschieht das vor allem im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage.

“Keine lingua franca, sondern Ordnung” – Heiner Bielefeldt zum universalen Anspruch der Menschenrechte

“Die Menschenrechte fungieren als lingua franca of global moral thought” – mit einem Zitat von Michael Ignatieff begann Heiner Bielefeldt, Hauptreferent des zweiten Panels und UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, seinen Vortrag über Menschenrechte. Dabei legte er vor allem auf eine These wert: Menschenrechte sind mehr als nur lingua franca, sie dürfen nicht auf ihre Semantik reduziert werden. Denn wenn nur Worte benutzt werden, statt tatsächlich tätig zu werden, so Bielefeldt, dann steht die Menschenrechtssemantik sogar einer Durchsetzung menschenrechtlicher Standards entgegen.

Als Illustrationen einer Menschenrechtssemantik nannte Bielefeldt die Resolution des Menschenrechtsrates zu traditionellen Werten (Resolution 21/3), die Russland in den Menschenrechtsrat eingebracht hatte. Die Resolution betont den Stellenwert traditioneller Werte wie Familie und Gemeinschaft, die einer Verwirklichung der Menschenrechte nicht entgegenstünden. Tatsächlich, so Bielefeldt, gehe es aber Staaten wie Russland oder China nicht darum, Freiheitsrechte zu schützen. Russland setze menschenrechtliches Vokabular ein, damit der Regierung nicht vorgeworfen werden könne, untätig zu sein: reine Menschenrechtssemantik also. Nach Bielefeldt liegt die Wurzel allen Übels in einer Abkoppelung der Freiheitsrechte von der Menschenwürde: Diese beiden Konzepte dürfen nicht diametral einander entgegengesetzt werden, sondern müssen ganzheitlich gedacht werden. Also gerade nicht ein Kampf des sogenannten “dignity-based approach” gegen den “freedom-based approach”.

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Dieser Ansatz ist nicht neu. Er wurde in aller Deutlichkeit erstmalig auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 ausformuliert, als die Mitgliedstaaten erklärten: “Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang.” Diese Erkenntnis hatte epochale Bedeutung. Sie führte zum Einen zu einer Änderung des bis dahin vorherrschenden Ansatzes, der Abwehrrechte und Leistungsrechte als Gegensätze einander gegenüberstellte. Jetzt konnten Abwehr- und Leistungsrechte als Einheit gedacht werden, die sich gegenseitig verstärkten. Damit rückte der Fokus vor allem auf die Frage, welche Inhalte einzelner Menschenrechte justiziabel, also einklagbar, sein sollten. In diesem Bereich spielen vor allem die Ausschüsse der einzelnen Menschenrechtsverträge eine große Rolle, die zumindest teilweise auch Individualbeschwerden anhören. Dazu wurde zum Beispiel für Rechte aus dem Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2008 ein Fakultativprotokoll verabschiedet, das Deutschland bis heute nicht unterzeichnet hat. Heiner Bielefeldt forderte hier die Bundesregierung dazu auf, dieses Protokoll zu ratifizieren und so den Weg für Individualbeschwerden auch deutschen Bürger_innen frei zu machen. Ebenso wies er auf die mangelnde Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention hin; beides fordert auch der DGVN-Bundesvorstand.

Wenn die Menschenrechte unteilbar sind, dann sind sie – in den Worten Bielefeldts –  mehr als nur eine lingua franca: Die normative Hauptfunktion unteilbarer Menschenrechte ist ihre Eigenschaft als offene Ordnungsstruktur. Damit versprechen die internationalen Menschenrechte, der zunehmenden Ausdifferenzierung der internationalen Ordnung in einzelne und spezialisierte Regime entgegenzuwirken. Gleichzeitig birgt die Proliferation von menschenrechtlichen Normen wieder die Gefahr einer zunehmenden Fragmentierung. Da gilt umso mehr, wenn die Idee unteilbarer Menschenrechte nicht ernst genommen wird, sondern Freiheitsrechte und ein auf Würde fußender Ansatz gegeneinander ausgespielt werden. Was also tun angesichts der Fragmentierungsgefahr und der Gefahr, dass der universale Anspruch der Menschenrechte gleichzeitig droht, zu reiner Semantik zu verkommen?

Vorbehalte trotz Reformerrolle: Jochen von Bernstorff zum deutschen Engagement in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen

Um diese Frage zu beantworten, kann ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein. Jochen von Bernstorff, selbst einst Vertreter Deutschlands bei den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention und Mitglied der deutschen Delegation in der ehemaligen Menschenrechtskommission und dem Menschenrechtsrat, hob hervor, dass Deutschland 1993 der Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte durchaus skeptisch gegenüber stand. Dabei hatte sich die BRD bereits sehr früh für die Menschenrechtspolitik der UN eingesetzt. Am 28. September 1976 begann die bundesrepublikanische Menschenrechtspolitik mit einem “Paukenschlag”, als Hans Dietrich Genscher einen Weltgerichtshof für Menschenrechte vorschlug. Dabei sah sich die BRD durchaus auch Kritik ausgesetzt: Die DDR prangerte vor allem die fehlende Bestrafung ehemaliger SS-Funktionäre in Westdeutschland an und schalt die Bundesrepublik für ihre Verstrickungen mit dem diktatorischen Argentinien und dem Apartheidregime Südafrikas. Damit waren die Jahre der geteilten Mitgliedschaft Deutschlands vor allem geprägt durch ein “Ringen” um die Stellung als Musterknabe.

Warum also dann 1993 die Skepsis gegenüber der Idee der Unteilbarkeit? Ich vermute, dass vor allem bei Leistungsrechten trotz grundrechtsdogmatischer Durchbrüche auch auf der nationalen Ebene durchaus noch Skepsis herrschte, ob und in welchem Umfang Leistungsrechte – und dazu gehören die allermeisten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte – einklagbar sind. Denn traditionell werden Grundrechte vor allem als Abwehrrechte verstanden, also als Räume, die frei von staatlichen Eingriffen sind. Wird aber etwa ein „Recht auf Gesundheit“ ausgerufen, so ist nicht immer klar, welche konkrete Leistungspflicht hier den Staat trifft. Dass das institutionelle Gefüge der Vereinten Nationen hier nicht nur zur Ausgestaltung einzelner Rechte, sondern gar zu einem neuen Menschenrecht führen kann, erläuterte von Bernstorff an einem Beispiel: 2010 verabschiedete die Generalversammlung Resolution 64/292, in der explizit ein Recht auf Wasser und sanitäre Einrichtungen als Menschenrecht anerkannt wurde. Dem war aber ein langer Prozess vorausgegangen: Der Ausschuss zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten hatte bereits 2002 unter Mitwirkung auch deutscher Völkerrechtler wie Eibe Riedel und Bruno Simma den General Comment No. 15 verabschiedet, der aus den Artikeln 11 und 12 des Wirtschafts- und Sozialpaktes – den Rechten auf einen angemessenen Lebensstandard und auf Gesundheit – ein Recht auf sauberes Trinkwasser ableitete. Dieser General Comment wurde mehrfach in der Menschenrechtskommission und dem neuen Menschenrechtsrat diskutiert, und schließlich das Recht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen nach der Generalversammlung auch vom Menschenrechtsrat im Jahre 2011 anerkannt.

Wenn also Jochen von Bernstorff in dieser Hinsicht Deutschland ein positives Zeugnis bescheinigte und auch dessen positive Rolle beim Reformprozess des VN-Menschenrechtssystems hervorhob, bleibt die Frage: Reichen einzelne Beiträge, wie etwa zum Recht auf sauberes Trinkwasser, aus, um Fragmentierungstendenzen entgegenzuwirken? Bedarf es neuer Ansätze, wenn Menschenrechte auf immer größere Teile des VN-Systems Auswirkungen haben?

Menschenrechtsschutz durch den Sicherheitsrat: Dominik Steiger zur Sanktionspolitik und zum Individualrechtsschutz

Dass die Menschenrechte auch im Sicherheitsrat immer größere Bedeutung erfahren, zeichnete Dominik Steiger nach. Heute ist allgemein anerkannt, dass massive Menschenrechtsverletzungen – etwa im Rahmen eines internen Konflikts – eine Bedrohung für den internationalen Frieden darstellen und Handlungsoptionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII eröffnen. Der Sicherheitsrat hat in den letzten Jahren vermehrt sogenannte thematische Resolutionen erarbeitet, so etwa zum Thema Kinder und bewaffnete Konflikte. Dabei habe Deutschland eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen der Resolution 1539 (2004) gespielt, die als Wegbereiter für individuelle Maßnahmen gegen Gruppen, die Kindersoldat_innen einsetzen, gilt.

Dass menschenrechtliche Garantien nicht zuletzt auch die Vereinten Nationen selbst binden, zeigt die Diskussion um Rechtsschutzmöglichkeiten gegen individuelle Sanktionsregime. Mit Resolution 1267 (1999) verabschiedete der Sicherheitsrat ein Sanktionsregime, das unter anderem vorsah, Gelder von mutmaßlichen Unterstützer_innen der Taliban einzufrieren. Wer Gegenstand solcher Sanktionen war, wurde durch einen Ausschuss des Sicherheitsrats beschlossen. Das traf auch Yassin Abdullah Kadi und seine in Schweden ansässige Al-Barakaat-Stiftung. Da es Kadi nicht ermöglicht wurde, von der Liste gestrichen zu werden, oder jedenfalls in einem rechtsförmigen Verfahren nachprüfen zu lassen, ob er zu Recht auf die Liste gesetzt wurde, klagte vor dem Europäischen Gerichtshof und bekam Recht. Das schreckte natürlich den Sicherheitsrat auf, der seinerseits – unter tatkräftiger und aktiver Unterstützung Deutschlands – ein Ombudsverfahren einrichtete, welches aber aus menschenrechtlicher Sicht nach wie vor defizitär ist. Es zeigt sich aber an diesem Beispiel, dass menschenrechtliche Gesichtspunkte die Arbeitsweisen eines so gewichtigen Organs wie dem Sicherheitsrat auch nachhaltig verändern können. Allerdings haben in diesem Fall gerade nicht die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen eingegriffen. Vielmehr war es der Standard der Europäischen Union, der zu einer ersten Verbesserung führte.

Menschenrechte als Ordnungsstruktur?

Sind Menschenrechte also als Ordnungsstruktur zu sehen, die vor allem normativ als ordnendes Element funktionieren? Wie sich momentan am Syrienkonflikt zeigt, ist der Zielkonflikt zwischen Menschenrechten einerseits und der Souveränität sowie der Friedenssicherung andererseits noch lange nicht ausgetragen. Einig waren sich alle Panellisten, dass sich die deutsche Politik zu häufig hinter EU-Politik versteckt, dass Deutschland durchaus deutlicher eine eigene Menschenrechtspolitik entwickeln könnte. Aber was kann das heißen?

Ein nach wie vor großes Defizit der Menschenrechte ist ihre mangelhafte Durchsetzbarkeit. Georg Nolte hatte am Vorabend gefordert, mehr Wert zu legen auf die Einhaltung völkerrechtlicher Normen durch rechtsförmige Institutionen. Bedeutet das also doch, Genschers Traum vom Menschenrechtsgericht wahr zu machen? Politisch erscheint dies gegenwärtig nicht durchsetzbar, denkbar wäre aber zumindest eine bessere Vernetzung der bestehenden Ausschüsse. Die Individualbeschwerdeverfahren der einzelnen Menschenrechtsverträge existieren bereits. Sie werden aber nur selten genutzt und – das forderte Heiner Bielefeldt in der Diskussion – müssen erst einmal ernst genommen werden. Hier legte aber gleich Andreas Zumach den Finger in die Wunde: Denn die Entscheidung des Antirassismus-Ausschusses wird gerade in Deutschland oftmals nicht ernst genommen. Im April diesen Jahres hatte der Ausschuss die Äußerungen Thilo Sarrazins in der Zeitschrift Lettre International für rassistisch erklärt und Deutschland außerdem wegen nicht ausreichender Sanktionierung dieser Äußerungen gerügt. Innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft stieß die Rüge auf Kritik: Sarrazins Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. Auch Heiner Bielefeldt schloss sich dieser Kritik an und sah jedenfalls keinen gesteigerten Bedarf nach einer Änderung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Hier zeigt sich: Offensichtlich gibt es selbst bei den Enthusiasten des internationalen Menschenrechtsschutzes Skepsis, wenn ein Ausschuss autoritativ über einen Einzelfall entscheidet. Ich denke aber, das gehört zu einer Verbesserung der Effizienz internationalen Menschenrechtsschutzes dazu: Das Entscheidungsgefüge muss auch dann anerkannt werden, wenn man mit der Entscheidung aus politischen Gründen nicht übereinstimmt, etwa weil man die Meinungsfreiheit höher gewichtet als den Schutz vor rassistischen Äußerungen. Denn sonst droht man sich leicht selbst dem Vorwurf einer reinen Menschenrechtssemantik ausgesetzt. Deshalb sollte Deutschland, wenn auch vielleicht zähneknirschend, die Entscheidung des Antirassismus-Ausschusses rasch umsetzen. Gleichzeitig kann es sich stark machen für eine stärkere Vernetzung der einzelnen Gremien. Das ist sicher erforderlich, um die normative Ordnungsfunktion der Menschenrechte auch institutionell abzusichern. Und könnte gerade ein spezifisch deutscher Beitrag zur VN-Menschenrechtspolitik sein.

Panel 2: Menschenrechte, 19.09.2013, 11h30

Referat: Heiner Bielefeldt

Discussants: Jochen von Bernstorff, Dominik Steiger

Moderation: Andreas Zumach