von Carolin Anthes
Kofi Annan hat einmal pointiert bemerkt, dass es ohne Entwicklung keinen Frieden geben wird, ohne Frieden keine Entwicklung und beides nicht ohne Respekt für Menschenrechte. Er nahm hier Bezug auf die drei sich wechselseitig stützenden Hauptpfeiler und Aufgabenbereiche der Vereinten Nationen: Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte. 1945, im Jahr der Gründung der UN, war der dritte Pfeiler nur eine Idee ohne konkreten Bauplan. Zwar erhebt die UN-Charta die Achtung der Menschenrechte zu einem Ziel der Organisation, doch lag die Priorität der Nachkriegsordnung auf der Friedenssicherung, die losgelöst von den anderen Pfeilern gedacht wurde. Es brauchte viele Jahrzehnte der mühsamen Bautätigkeit, bis das Menschenrechtssystem tatsächlich zu einem eigenen Pfeiler herangewachsen war. Dieser junge Pfeiler droht nun angesichts der sich verschärfenden Aufgabenlast bei gleichbleibend drastischer Unterfinanzierung zu zerbröckeln.
Die Jahre seit Ende des Kalten Krieges zeugen von einer immer festeren Verankerung dieses Pfeilers im Fundament der UN: 1993 wurde das Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf (Office of the High Commissioner for Human Rights, OHCHR) geschaffen, dessen Tätigkeitsbereiche sich seither stetig ausgeweitet haben. Mittlerweile sind Förderung und Schutz der universellen Menschenrechte ins Zentrum der Anstrengungen für eine friedliche Welt und geteilten Wohlstand gerückt. Hierfür stehen institutionelle Reformstrategien, wie das Human Rights Mainstreaming, also die Verankerung der Menschenrechte in der gesamten Organisation, mit dem das OHCHR federführend betraut ist. Friedensmissionen sind heute ohne Menschenrechtskomponente undenkbar. Entwicklungsprogramme werden menschenrechtsbasiert entwickelt und umgesetzt. Wir beobachten auch in der UN-Praxis ganz im Sinne Annans eine immer stärkere Verzahnung der drei Grundpfeiler und einen „surge of interest in human rights issues“, so der neue Hochkommissar Zeid Ra’ad Al Hussein.
Drastische Unterfinanzierung: „I have to say I am shocked.“ (Zeid)
Umso fassungsloser fällt das Kopfschütteln aus, das der Blick auf die finanzielle Ausstattung des Menschenrechtspfeilers auslöst: von Gleichberechtigung keine Spur! Er wird im Gegensatz zu den anderen beiden Pfeilern nur mit einem winzigen Anteil des regulären UN-Budgets bedacht – mageren 3 Prozent. Zudem ist nur ein Drittel der OHCHR-Ausgaben von diesem regulären Haushalt gedeckt, der Rest muss durch freiwillige und damit höchst volatile Zuwendungen bestritten werden (im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 kam es hier wenig überraschend zu starken Einbußen). Für 2014-2015 wendet die UN also für den Kern ihrer Menschenrechtsarbeit jährlich lächerliche 87 Millionen USD auf – de facto 87 Prozent weniger als für ‚Frieden und Sicherheit’ sowie 84 Prozent weniger als für ‚Entwicklung’. Oder, wie es der Hochkommissar in einer Pressekonferenz in Genf plastisch formulierte: die Bevölkerung der Schweiz gibt jährlich zehnmal so viel für Schokolade aus.
Nun taugt die chronische Unterfinanzierung der Weltorganisation kaum als Neuigkeit, aber die soeben dargestellte inhärente und massive Schieflage beim Zuteilen der vorhandenen Gelder ist mit Blick auf die kontinuierlich steigenden Erwartungen an das Menschenrechtssystem schlichtweg skandalös. Der Hochkommissar ermahnte die Generalversammlung im Oktober 2014 in New York aus gutem Grund: „Excellencies, a stool with one leg so vastly shorter than the others cannot possibly bear the weight of dramatically increasing global expectations.“
Beeindruckende und begrüßenswerte Ausweitung der Aufgaben
Allen Skeptikern eines gestiegenen Finanzbedarfs des Menschenrechtspfeilers sei dringend ein Blick in den OHCHR Report 2013, den letzten Rechenschaftsbericht und den OHCHR Management Plan 2014-2017, der die Vorhaben der nächsten vier Jahre operationalisiert, angeraten. In sechs ausgefeilten thematischen Prioritäten wird eine enge Verzahnung mit den anderen Aufgabenfeldern der UN vorangetrieben, die notwendig ist, um die Arbeit der Vereinten Nationen als Ganzes effektiver zu gestalten.
OHCHR übernimmt zudem im Rahmen des Mainstreaming eine zentrale Rolle in der vor einem Jahr auf den Weg gebrachten vielversprechenden Human Rights Up Front-Initiative des Generalsekretärs, die versucht die Präventions- und Reaktionsfähigkeit des UN-Systems bei massiven Menschenrechtsverletzungen nach mehrfachem systematischen Versagen (Ruanda, Srebrenica, Sri Lanka etc.) zu verbessern.
Gerade der Wille zur entschiedenen Reaktion auf sich abzeichnende oder bereits reale Menschenrechtskrisen hat in den vergangenen Jahren einen weiteren Trend hin zu so genannten Fact-Finding Missions und Commissions of Inquiry (CoI) ausgelöst. Diese vom Menschenrechts- oder Sicherheitsrat mandatierten Missionen werden vom OHCHR durchgeführt und tragen durch unabhängige, unparteiische und detaillierte Beobachtung, Analyse und Dokumentation dazu bei, menschenrechtliche Krisenherde bis in den letzten zugänglichen Winkel auszuleuchten und somit Handlungsdruck aufzubauen (prominente Beispiele sind Sudan, Syrien und Nordkorea). Dass dies keine bloße Worthülse ist, beweist die CoI zu Nordkorea, die im Februar 2014 ihren detaillierten Abschlussbericht vorlegte, der weitreichende und systematische Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Infolge der Veröffentlichung hat die UN-Generalversammlung im Dezember eine Resolution verabschiedet und erstmalig den Sicherheitsrat aufgefordert, den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof (ICC) zu übergeben. Trotz des nicht völkerrechtlich bindenden Charakters der GA-Resolution zeigte sich das Regime in Pjöngjang im Vorfeld beeindruckt und versuchte, die in der Resolution enthaltene direkte Referenz auf den „Supreme Leader“ und dessen Verantwortlichkeit für die Gräueltaten zu verhindern. Der Sicherheitsrat hat sich inzwischen – entgegen dem Votum Chinas – in einem umkämpften Briefing mit dem Bericht der CoI und damit zum ersten Mal dezidiert mit der Menschenrechtslage in Nordkorea befasst.
Die paradoxe Situation muss gelöst werden
Dieses Schlaglicht auf die anwachsenden Commissions of Inquiry verweist auf nur einen von sehr vielen weiteren expandierenden und für die gesamte UN relevanten Aktionsbereichen, die das OHCHR an die Grenzen seiner Belastungsfähigkeit bringen (weitere Beispiele sind das wachsende Treaty Bodies System und die steigende Anzahl der Special Procedures, sowie der Sondersitzungen des Menschenrechtsrats). Bereits Navi Pillay, die ehemalige Hochkommissarin, hatte dringlich darauf verwiesen, dass das Hochkommissariat viele Anfragen zur Unterstützung und zum Aufbau von menschenrechtsbezogenen Kapazitäten von Mitgliedstaaten ablehnen müsse, da schlicht die finanziellen Mittel und das Personal fehlten. Ihrem Nachfolger bleibt nichts anderes übrig, als dies gebetsmühlenartig zu wiederholen. Wir beobachten also im Bereich des UN-Menschenrechtspfeilers eine paradoxe Situation, in der ein verstärkter Anreiz vieler Staaten, zu einem effektiveren internationalen Menschenrechtsschutzsystem beizutragen, in der Praxis an mangelnden finanziellen Ressourcen zu zerbrechen droht.
Die Generalversammlung hat keine Wahl – sie muss das reguläre Budget anpassen und den Menschenrechtspfeiler ihrer Organisation vor dem Kollaps bewahren. Bestehende Initiativen, zum Beispiel den Budgetanteil auf anfänglich 5% anzuheben, müssen auch von Deutschland vehement unterstützt werden, das sich die Förderung der Menschenrechte groß auf die Fahnen geschrieben hat und seit dem 1. Januar 2015 nun auch dem Menschenrechtsrat in Genf vorsitzt. Politischer Wille und entschiedenes Lobbying sind gefragt. Ein Gebäude kann nur dann Menschen sicheren Schutz bieten, wenn es von starken Pfeilern getragen wird. Solch starke Pfeiler sollten uns mindestens ebenso viel wert sein wie gute Schweizer Schokolade.