Ein etwas polemischer Zwischenruf
von Carolin Anthes
Fast zu schön um wahr zu sein: „Du hast etwas gegen den Hunger in der Welt. Dein Smartphone.“ – „Hunger beenden mit einer App und der UNO: mit nur 40 Cent!“ Bitte wie? ShareTheMeal, eine Initiative und Non-Profit-App in Partnerschaft mit dem UN Welternährungsprogramm (World Food Programme, WFP), ermöglicht es Smartphone Usern mit einer Spende von nur 40 Cent „Mahlzeiten mit einem Kind in Not zu teilen“. Im Klartext heißt das: Ein hungerndes Kind wird mithilfe dieser 40 Cent einen Tag lang im Rahmen von Schulspeisungen durch das WFP ernährt. Zielland ist aktuell Lesotho im Süden des afrikanischen Kontinents.
Seit dem deutschlandweiten Launch der App – deren Wiege in der Berliner Gründerszene liegt – überschlagen sich einschlägige Medien mit Lobeshymnen. ZEIT Wissen spricht von einer „brillanten Idee“, das Start-Up-Magazin The Hundert sieht hier eines von 100 aufstrebenden deutschen Start-Ups am Werk und WIRED Deutschland zeichnet ShareTheMeal als eine von „15 Ideen für eine bessere Welt 2015“ aus (siehe Facebook-Seite von ShareTheMeal). Die Ambitionen der Erfinder sind schließlich auch beeindruckend. Sie wollen nichts Geringeres als “den weltweiten Hunger möglichst effizient und effektiv [zu] bekämpfen“ und ihn damit „für immer beenden“.
So sehr ich die Vision, das Ziel und das Engagement der Köpfe, die hinter der App stecken, schätze und teile, so naheliegend sind für mich einige große und sehr plastische Fragezeichen.
Ursachenanalyse: Wer hungert und wieso?
Zählt man die an „verborgenem Hunger“ d.h. an Mikronährstoffmangel leidenden Menschen mit, hungern aktuell weltweit zwei Milliarden Menschen. Wenn wir den Welthunger effektiv und damit für immer beenden wollen, ist die erste zentrale Frage, worin er wurzelt, was die zugrundeliegenden Ursachen und Strukturen sind, die dauerhaft einem Drittel der Weltbevölkerung die angemessene Ernährung verwehren. Mittlerweile sind detaillierte Ursachenanalysen allgemein zugänglich – jede_r von uns kann sich mit nur ein paar Mausklicks darüber informieren und vor Augen führen, dass wir eigentlich über ausreichende Ressourcen verfügen, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Die chronische Welternährungskrise ist also keinem Mangel an Nahrungsmitteln geschuldet – was die einflussreichen Agrarkonzerne mit ihrem Fokus auf Produktivitätssteigerungen mittels exportorientierter, industrieller Landwirtschaft verschweigen – sondern u.a. Folge der Unterdrückung und Marginalisierung bestimmter Personengruppen, die in Armut leben und unter historisch nachzeichenbarer Verteilungsungerechtigkeit leiden. Die Hungernden haben teils über Generationen hinweg keinen ausreichenden Zugang zu Nahrung und produktiven Ressourcen, wie Land, Saatgut, Krediten oder zu zusätzlichem Einkommen. Sie können somit als Kleinbauern weder ausreichend Nahrung für sich selbst anbauen, noch auf den Märkten kaufen. Schätzungen zufolge leben dabei 80% der weltweit Hungernden im ländlichen Raum und sind Kleinbäuer_innen, Landlose, Fischer_innen, Jäger_innen und Hirt_innen, darunter in großer Mehrheit Frauen (70%). Indigene Völker sind ebenfalls vielfach betroffen. Was sie alle oftmals eint ist die Erfahrung von Landenteignungen, Vertreibungen, Diskriminierung, Machtlosigkeit und mangelndem politischen Einfluss. Weder Politik noch Wirtschaft haben in den vergangenen Jahrzehnten effektive Maßnahmen zum Abbau dieser Marginalisierung umgesetzt, stattdessen ist der Status quo durch verfehlte und schlichtweg ungerechte globale und nationalstaatliche Handels-, Agrar-, und Finanzpolitik zementiert worden.
Wenn wir uns dies vor Augen halten und begreifen, dass der chronische Hunger in unserer Welt strukturellen Ursachen von politischer, sozialer und ökonomischer Dimension geschuldet ist, dann stellt sich die Frage, wie über eine Spenden-App diese Strukturen „effektiv und effizient“ angegangen werden sollen. So sehr ich mit Brechts Keuner-Zitat „Eher nämlich wird ein Gebirge durch eine einzige Ameise beseitigt als durch das Gerücht, es sei nicht zu beseitigen” sympathisiere, so eindeutig bin ich geneigt festzustellen, dass ShareTheMeal dem zu kurz greifenden Paradigma der Symptombekämpfung verhaftet bleibt. Tatsächlich angezeigt ist stattdessen ein massiver Ruck, der durch die internationale und nationale Politik gehen muss, das im (Völker-)recht verankerte Menschenrecht auf angemessene Nahrung eines jeden Menschen in der Praxis zu garantieren. Diese Forderung geht weit über freiwillige, punktuelle und höchst volatile Spenden via privater Smartphones hinaus.
Globale Öffentlichkeit aber kein Verpflichtungsgefühl
Sicherlich könnte man argumentieren, dass hier mittels Smartphone-Nutzung und der damit einhergehenden Social Media-Vernetzung eine neue, globale Öffentlichkeit angeregt wird, ihren Teil dazu beizutragen, das Hungerproblem zu lösen. Möglich ist, dass die ShareTheMeal App mehr Aufmerksamkeit – auch gerade einer jüngeren Zielgruppe – auf das globale Hungerproblem lenkt und vielleicht sogar eine neue Form von kosmopolitischer Solidaritätsbekundung darstellt. Mit jedem Klick, mit jeden gespendeten 40 Cent zeige ich auch, dass ich das Problem und meine eigene Verantwortung anerkenne und nicht mehr ignoriere.
Die Kundenrezensionen bei amazon.de, wo die App kostenlos zum Download zur Verfügung steht, sprechen allerdings eine dezent andere Sprache: „Schnell kann man mal für einen beliebigen Zeitraum ein Kind mit zwei Mahlzeiten versorgen, ohne irgendwelche Verpflichtungen einzugehen“ – oder: „Funktioniert ganz einfach und mit kleinen Beiträgen, die nicht wehtun, immer dann, wenn einem gerade danach ist, etwas zu teilen.“ Hieraus spricht nicht gerade ein dauerhaftes Verantwortlichkeits- oder Verpflichtungsgefühl der User. Und das, obwohl ShareTheMeal in den FAQ deutlich macht: „Mithilfe Deiner Spende werden Kinder ernährt, die sonst keine Mahlzeiten bekommen würden.“ Ein User beschwert sich über die Datengröße der App und kommentiert lapidar: „Da bleiben die Kinder eben hungrig, wenn die App schon alles verschlingt.“
Zur nachhaltigen Hungerbekämpfung bedarf es mehr
Die App gehorcht eben auch den Gesetzen des Market(ing)s und muss Spaß machen, keinesfalls anklagen oder ein schlechtes Gefühl auslösen. Sie arbeitet mit einem Belohnungssystem, das mich ein wenig an die Tamagotchis der 90er Jahre erinnert, die man auch per Knopfdruck alle paar Stunden füttern musste. Nach dem Klick sehe ich ein Foto von glücklichen Kindern in Lesotho. Dabei vermeidet es die App darauf einzugehen, warum es die hungernden Kinder überhaupt gibt, mit denen ich meine Pizza, mein argentinisches Rumpsteak oder meinen Zander in Safranjus „teile“ (was sich dann in der Praxis in Maisbrei übersetzt). Was in der Welt schief läuft. Wie mein Wohlstand extrem eng mit den Verhältnissen im fernen Lesotho verknüpft ist. Und wie ich z.B. als Konsumentin Druck auf Politik und Wirtschaft ausüben könnte. Oder aufgeklärt werden könnte, wie viel Prozent der produzierten Nahrungsmittel wir im globalen Norden verschwenden und ungenutzt wegwerfen. Stattdessen darf ich mein Gewissen per Klick erleichtern und mich, wenn mir der Sinn danach steht, auch gerne noch auf Facebook selbst inszenieren: „Wie sieht Euer ShareTheMeal-Moment aus? Postet ein Foto für unser neues Facebook Album #ShareTheMeal“. Ist eine solche Selbstinszenierung tatsächlich der Weg, „den Kampf gegen den Welthunger [zu] revolutionieren“?
Zur nachhaltigen Hungerbekämpfung bedarf es mehr. Mehr auf den Ursachenanalysen aufbauendes Handeln von politischen Entscheidungsträgern ebenso wie von uns Konsument_innen. Mehr auf Dauer angelegtes Engagement, aus der Erkenntnis heraus, dass hungernde Kinder kein Fall für Wohltätigkeit sind, sondern für verpflichtendes Handeln von Staaten, Unternehmen und letztlich auch uns selbst. Hieran führt kein Weg vorbei. Eine Welt ohne Hunger ist nicht ohne wirkliche Anstrengung und ein konsequentes, kritisches Hinterfragen unseres eigenen Lebensstils und dessen historischen sowie systemischen Grundlagen zu haben. Dazu bedarf es (leider) mehr als eines Smartphones in der Hand.
(Alle Zitate sind der ShareTheMeal-App selbst bzw. ihrer Website, Facebook- oder amazon.de-Seite entnommen.)