„Das Völkerstrafrecht ist aus der Weltpolitik nicht mehr wegzudenken“ – Interview mit Richter Christoph Flügge

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Courtesy of the ICTY

Das Jugoslawientribunal feiert dieses Jahr Jubiläum: Vor 20 Jahren rief der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Tribunal ins Leben, um schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts, die im Jugoslawienkrieg begangen wurden, strafrechtlich zu ahnden. Auch der Internationale Strafgerichtshof, der gemeinsam mit Benjamin Ferencz mit der Dag-Hammarskjöld-Ehrenmedaille der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen ausgezeichnet wird, hatte erst kürzlich einen runden Geburtstag: Er verfolgt schwerste Menschenrechtsverbrechen seit 2002. Zeit also für eine Bilanz: Welche Erfolge haben die Gerichtshöfe zu verzeichnen? Vor welchen Herausforderungen stehen das Völkerstrafrecht und seine Institutionen? Über diese Fragen haben wir uns mit dem Richter am Jugoslawientribunal Christoph Flügge unterhalten.

20 Jahre Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und über 10 Jahre Internationaler Strafgerichtshof: Was ist Ihre persönliche Bilanz aus der Arbeit des Jugoslawientribunals und des Gerichtshofs?

Das Allerwichtigste ist, dass diese Institutionen überhaupt existieren. Das ist bereits ein riesiger rechtspolitischer und völkerstrafrechtlicher Fortschritt. Während der Zeit des Kalten Krieges war an solche Institutionen überhaupt nicht zu denken. Deswegen ist ihr Dasein eine enorme Errungenschaft. Natürlich war die Gründung des Jugoslawientribunals durch den Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen damals ein Sprung ins kalte Wasser. Keiner wusste genau, wie ein solches Tribunal eigentlich funktionieren sollte. Aber im Ergebnis ist das Tribunal ein großer Erfolg und das Völkerstrafrecht eigentlich nicht mehr aus der Weltpolitik wegzudenken, auch wenn es historisch gesehen noch ganz am Anfang steht und ein gut zu pflegendes Pflänzlein ist.

Also ist der Grundsatz, dass rechtsförmige Institutionen über die strafrechtliche Verantwortung von Individuen entscheiden, mittlerweile im Völkerrecht verankert?

„The end of impunity – das Ende der Straflosigkeit“ – so lautete ein Slogan vieler politischer Bewegungen, vor allem der Nichtregierungsorganisationen. Diese Bewegung hat lange dafür gekämpft, dass nicht nur die Handlanger in vorderster Reihe für Kriegsverbrechen zur Verantwortung gezogen werden, sondern gerade die Befehlshaber, und zwar unabhängig von ihrer Position oder ihrem Rang, sei es in der Armee, der Polizei oder der Politik, bis hin zu Staatsoberhäuptern. Um zu erklären, welche Auswirkung das Völkerstrafrecht hat, vergleiche ich es gerne mit entsprechenden nationalen Zusammenhängen. Wir müssen zum Beispiel in Deutschland feststellen, dass viele Straftaten begangen werden. Aber nicht alle werden entdeckt, noch weniger werden strafrechtlich verfolgt und schon gar nicht alle abgeurteilt. Und dennoch: Die Vorstellung, dass es kein Strafrecht, keine strafrechtlichen Institutionen in Form von Gerichten oder der Staatsanwaltschaft gäbe, wäre in einem nationalen Zusammenhang unvorstellbar und würde in der Anarchie enden. Wir sind jetzt am Beginn einer Phase, wo dies auch auf internationaler Ebene gilt. Es wurden sowohl materielles Recht als auch entsprechende Institutionen in Form von Gerichten und Anklagebehörden geschaffen. Das ist ein entscheidender Schritt. Das ist natürlich alles noch sehr unvollkommen, aber diese Anfänge sind bereits eine große Errungenschaft und ich hoffe sehr, dass sich diese Entwicklung auch in Zukunft fortsetzt.

Vor Kurzem hat die Afrikanische Union erfolglos versucht, die laufenden Strafverfahren gegen den kenianischen Präsidenten Uhuru Kenyatta und Vizepräsident William Ruto auszusetzen. Zeigt sich hier die politische Seite des Völkerstrafrechts? Lassen sich Recht und Politik an dieser Stelle überhaupt trennen?

Die Staatengemeinschaft, die Institutionen wie den Internationalen Strafgerichtshof ins Leben ruft, muss sich gleichzeitig klarmachen, dass es dann rechtliche Regelungen gibt und sie muss diese Regeln akzeptieren. Dazu gehört auch, dass die Staatengemeinschaft die Unabhängigkeit der von ihr geschaffenen Institutionen akzeptieren muss. Natürlich können Verfahren am Internationalen Strafgerichtshof unter anderem auch durch den Weltsicherheitsrat ausgelöst werden und dann bedarf es schon bei der Frage, ob diese Verfahren eingeleitet werden, einer politischen Meinungsbildung. Insofern gibt es sicher Elemente politischer Entscheidungen im Völkerstrafrecht. Auch die Einrichtung eines Ad-hoc Tribunals, wie etwa des Jugoslawientribunals, ist eine politische Entscheidung.

Das Verfahren selbst aber, und das ist meine Überzeugung, ist kaum beeinflusst durch politische Überzeugungen. Dass politische Einflussnahme auf den Verlauf einzelner Verfahren unmittelbar Auswirkungen gehabt hätte, ist mir nicht bekannt. Das ist auch wichtig, um die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit zu wahren. Eine unabhängige Gerichtsbarkeit ist eine wesentliche Voraussetzung, damit strafrechtliche Verfahren funktionieren. Ich hoffe sehr, dass Staaten begreifen, dass sie gut daran tun, mit solchen Gerichten zusammenzuarbeiten und diese zu unterstützen.

Oft wird von einer „abschreckenden Wirkung“ des Völkerstrafrechts gesprochen. Sehen Sie ein präventives Element im Völkerstrafrecht? Schreckt es Einzelne ab?

Jedenfalls werden es Staaten, die früher ohne Weiteres ehemalige Kriegsverbrecher aufgenommen, ihnen Asyl gewährt und Zugang zu ihren Vermögenswerten verschafft haben, in Zukunft schwer haben, diese Praxis aufrecht zu erhalten. Darin zeigt sich schon eine abschreckende Wirkung. Wenn jemand von der internationalen Strafjustiz angeklagt und strafrechtlich verfolgt wird, dann können Staaten nicht einfach dieser Person Schutz bieten, ohne dass dies auf der internationalen Bühne zumindest politische Konsequenzen hätte. Das ist mittlerweile im allgemeinen Bewusstsein der Staatengemeinschaft angekommen. Ob auch Einzelne abgeschreckt werden, lässt sich nur schwer sagen. Aber das ist im nationalen Strafrecht ja nicht anders. Ein Krimineller lässt sich ja auch nicht durch die Strafandrohung von seiner Tat abhalten. Gleichwohl wird auch bei einzelnen Tätern im Hinterkopf sein: es gibt ein Restrisiko, doch erwischt zu werden. Dieses Restrisiko spielt natürlich eine Rolle, und seit der Verhaftung Pinochets gibt es ein solches Restrisiko nun auch auf internationaler Ebene. Das ist ein großer Fortschritt. Aber es wird sicher noch lange dauern, bis die internationale Strafjustiz perfekt funktionieren wird, wenn sie es denn je tun wird. Keine Justiz funktioniert perfekt.

Das Jugoslawientribunal neigt sich mit seiner Arbeit dem Ende zu. Kann man Bilanz ziehen, Lehren vielleicht, für die weitere Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs?

Ich möchte nicht so anmaßend sein, zu meinen, dass nun alle von unserer Institution, dem Jugoslawientribunal, etwas lernen können. Eines der großen Probleme unserer Arbeit ist die Länge der Verfahren, die sich oft über mehrere Jahre hinziehen. Ich habe zwar keinen Vorschlag, wie man die Verfahrensdauer reduzieren könnte, aber das ist sicherlich ein Problem. Ich wünsche mir, dass der Internationale Strafgerichtshof hier Mittel und Wege findet, seine Verfahren insbesondere im Interesse der Opfer zu beschleunigen. Für die Opfer ist es – etwa bei uns am Jugoslawientribunal – schon schwierig zu akzeptieren, dass vor 20 Jahren im ehemaligen Jugoslawien  Kriegsverbrechen begangen wurden und manch wichtiges Verfahren jetzt erst durchgeführt wird. Das ist schwer zu vermitteln. Aber ich weiß auch nicht, mit welchem Instrumentarium das zu beschleunigen wäre. Das gilt insbesondere dann, wenn mutmaßliche Täter sich der Strafverfolgung entziehen und erst nach vielen Jahren an das Tribunal überstellt werden.

Die wichtige Rolle, die dem Opferschutz zukommt, hat beim Internationalen Strafgerichtshof zu einer Institutionalisierung des Opferschutzes geführt. Opfer sind Beteiligte des Verfahrens und sind unter bestimmten Voraussetzungen zu entschädigen. Wie lässt sich Opferschutz mit dem strafrechtlichen Verfahren vereinbaren?

Ich bin eigentlich sehr froh, dass wir am Jugoslawientribunal Kompensationen und Entschädigungszahlungen nicht institutionalisiert haben. Die Verfahren sind so umfangreich, so vielfältig, dass dies eine zusätzliche Bürde sein würde, die nach meinem Gefühl eher Schwierigkeiten hervorbringt. Und ehrlich gesagt: Wir Richter als Strafrichter verschiedener Herkunft sind eigentlich überfordert mit der Frage nach der angemessenen Kompensation. Ich habe meine Zweifel, ob dem einzelnen Opfer eine individuelle finanzielle Kompensation wirklich hilft oder ob nicht wichtiger ist, dass die Staatengemeinschaft alles daran setzt, dass die Ursachen für solche Konflikte reduziert oder gar beseitigt werden durch verbesserte Infrastrukturen, verbesserte Bildung, good governance. Prävention ist letztlich das wichtigste Element. Die Idee des Opferschutzes ist eigentlich sehr begrüßenswert. Aber die Skepsis gegenüber einem internationalen Opferschutzmechanismus bleibt. Es ist nicht klar, inwieweit die geschaffenen Institutionen hier wirklich zu einer echten Befriedigung der Opfer führen.

Je nach Gericht unterscheiden sich die verfahrensrechtlichen Standards. Das Jugoslawientribunal orientiert sich am angloamerikanischen Recht und ist maßgeblich von den streitigen Parteien geprägt, der IStGH ist ein „Kompromiss“ zwischen kontinentaleuropäischem und angloamerikanischem System, beim Libanon-Tribunal ist etwa die Möglichkeit vorgesehen, ein Verfahren in Abwesenheit der Angeklagten durchzuführen. Glauben Sie, dass diese unterschiedlichen Verfahren eine Herausforderung für die Herausbildung eines allgemeinen Völkerstrafverfahrensrechts darstellen?

All diese Systeme haben natürlich ihre Vor- und Nachteile. Auch auf europäischer Ebene versuchen wir uns ja an der Rechtsvereinheitlichung. Aber bereits in Europa sieht man, dass erhebliche kulturell bedingte Unterschiede zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen bestehen. Auch hier wird sich schwergetan, etwa das britische Verfahrensrecht mit dem kontinentaleuropäischen Verfahrensrecht in Einklang zu bringen. Da liegt noch ein langer Weg vor uns. Weil wir ja noch ganz am Anfang der Entwicklung des Völkerstrafrechts stehen, ist es vielleicht auch nicht schlecht, verschiedene Verfahrensarten auszuprobieren. Es wäre sicherlich hilfreich und nützlich – aber vielleicht ist es auch noch zu früh – eine sehr grundsätzliche Untersuchung darüber anzustellen, wie sich die Verfahren im Ergebnis unterscheiden. Man könnte da verschiedene Kriterien untersuchen: Wie unterscheiden sich je nach Verfahren die Erfolge bezüglich der Wahrheitssuche, der Sicherung eines fairen Verfahrens, der Verfahrensdauer? Die Arbeitsweisen der anderen Tribunale und Gerichte kann und möchte ich nicht beurteilen. Ich bedaure es allerdings außerordentlich, dass das Jugoslawientribunal in so großem Maße dem angloamerikanischen Recht verpflichtet ist, obwohl der Konflikt im ehemaligen Jugoslawien ja in einem klassisch kontinentaleuropäisch geprägten Land stattgefunden hat. Die Beteiligten, vor allem auch die Anwälte aus der Region, mussten erst mühsam lernen, wie das Verfahrensrecht am Jugoslawientribunal funktioniert. Das ist etwas problematisch. Man sollte versuchen, auch im Verfahrensrecht so nah wie möglich an den jeweiligen regionalen Rechtstraditionen zu bleiben, allerdings natürlich unter der Berücksichtigung der internationalen menschenrechtlichen Mindeststandards.

Es bleibt also noch viel zu tun im Völkerstrafrecht – was ist Ihre Vision für die nächsten 20 Jahre Völkerstrafrecht?

Vielleicht keine Vision, sondern eine Hoffnung: Ich hoffe sehr, dass trotz aller Kritik, die an den völkerstrafrechtlichen Institutionen geübt wird, die Staatengemeinschaft das völkerstrafrechtliche Instrumentarium ausbaut. Ad hoc-Tribunale wie das Ruandatribunal und das Jugoslawientribunal sind zeitlich begrenzt, ebenso wie gemischte Tribunale. Der Sondergerichtshof für Sierra Leone etwa hat seine Arbeit im Wesentlichen beendet. Was bleibt, ist der Internationale Strafgerichtshof. Deswegen hoffe ich, dass keine weiteren Staaten versuchen werden, sich daraus zurückzuziehen. Andersrum wäre meine Vision, dass möglichst alle Mitglieder der Vereinten Nationen ihrer Verpflichtung nachkommen, Straflosigkeit nach Kräften zu bekämpfen und dazu gerade auch dem Rom-Statut beitreten und den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen. Ich wünsche mir mehr Vertrauen in diese wichtigen rechtsstaatlichen Institutionen durch die Staatengemeinschaft.

Die Fragen stellte Hannah Birkenkötter

Menschenrechte als offene Ordnungsstruktur. Möglichkeiten und Grenzen einer Menschenrechtspolitik der Bundesrepublik.

von Hannah Birkenkötter

Können die Menschenrechte als Struktur für die internationale Ordnung dienen? Dies war letztlich die Hauptfrage des zweiten Panels. Wenn also im Folgenden vor allem schlaglichtartig einige Kernthesen der Redner (und das ist hier nicht als generisches Maskulinum eingesetzt – aber dazu in einem späteren Post mehr) aufgezeigt werden, statt alle Punkte im Detail zu rekapitulieren, dann geschieht das vor allem im Hinblick auf die eingangs gestellte Frage.

“Keine lingua franca, sondern Ordnung” – Heiner Bielefeldt zum universalen Anspruch der Menschenrechte

“Die Menschenrechte fungieren als lingua franca of global moral thought” – mit einem Zitat von Michael Ignatieff begann Heiner Bielefeldt, Hauptreferent des zweiten Panels und UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit, seinen Vortrag über Menschenrechte. Dabei legte er vor allem auf eine These wert: Menschenrechte sind mehr als nur lingua franca, sie dürfen nicht auf ihre Semantik reduziert werden. Denn wenn nur Worte benutzt werden, statt tatsächlich tätig zu werden, so Bielefeldt, dann steht die Menschenrechtssemantik sogar einer Durchsetzung menschenrechtlicher Standards entgegen.

Als Illustrationen einer Menschenrechtssemantik nannte Bielefeldt die Resolution des Menschenrechtsrates zu traditionellen Werten (Resolution 21/3), die Russland in den Menschenrechtsrat eingebracht hatte. Die Resolution betont den Stellenwert traditioneller Werte wie Familie und Gemeinschaft, die einer Verwirklichung der Menschenrechte nicht entgegenstünden. Tatsächlich, so Bielefeldt, gehe es aber Staaten wie Russland oder China nicht darum, Freiheitsrechte zu schützen. Russland setze menschenrechtliches Vokabular ein, damit der Regierung nicht vorgeworfen werden könne, untätig zu sein: reine Menschenrechtssemantik also. Nach Bielefeldt liegt die Wurzel allen Übels in einer Abkoppelung der Freiheitsrechte von der Menschenwürde: Diese beiden Konzepte dürfen nicht diametral einander entgegengesetzt werden, sondern müssen ganzheitlich gedacht werden. Also gerade nicht ein Kampf des sogenannten “dignity-based approach” gegen den “freedom-based approach”.

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Dieser Ansatz ist nicht neu. Er wurde in aller Deutlichkeit erstmalig auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 ausformuliert, als die Mitgliedstaaten erklärten: “Alle Menschenrechte sind allgemeingültig, unteilbar, bedingen einander und bilden einen Sinnzusammenhang.” Diese Erkenntnis hatte epochale Bedeutung. Sie führte zum Einen zu einer Änderung des bis dahin vorherrschenden Ansatzes, der Abwehrrechte und Leistungsrechte als Gegensätze einander gegenüberstellte. Jetzt konnten Abwehr- und Leistungsrechte als Einheit gedacht werden, die sich gegenseitig verstärkten. Damit rückte der Fokus vor allem auf die Frage, welche Inhalte einzelner Menschenrechte justiziabel, also einklagbar, sein sollten. In diesem Bereich spielen vor allem die Ausschüsse der einzelnen Menschenrechtsverträge eine große Rolle, die zumindest teilweise auch Individualbeschwerden anhören. Dazu wurde zum Beispiel für Rechte aus dem Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 2008 ein Fakultativprotokoll verabschiedet, das Deutschland bis heute nicht unterzeichnet hat. Heiner Bielefeldt forderte hier die Bundesregierung dazu auf, dieses Protokoll zu ratifizieren und so den Weg für Individualbeschwerden auch deutschen Bürger_innen frei zu machen. Ebenso wies er auf die mangelnde Umsetzung des Zusatzprotokolls zur Antifolterkonvention hin; beides fordert auch der DGVN-Bundesvorstand.

Wenn die Menschenrechte unteilbar sind, dann sind sie – in den Worten Bielefeldts –  mehr als nur eine lingua franca: Die normative Hauptfunktion unteilbarer Menschenrechte ist ihre Eigenschaft als offene Ordnungsstruktur. Damit versprechen die internationalen Menschenrechte, der zunehmenden Ausdifferenzierung der internationalen Ordnung in einzelne und spezialisierte Regime entgegenzuwirken. Gleichzeitig birgt die Proliferation von menschenrechtlichen Normen wieder die Gefahr einer zunehmenden Fragmentierung. Da gilt umso mehr, wenn die Idee unteilbarer Menschenrechte nicht ernst genommen wird, sondern Freiheitsrechte und ein auf Würde fußender Ansatz gegeneinander ausgespielt werden. Was also tun angesichts der Fragmentierungsgefahr und der Gefahr, dass der universale Anspruch der Menschenrechte gleichzeitig droht, zu reiner Semantik zu verkommen?

Vorbehalte trotz Reformerrolle: Jochen von Bernstorff zum deutschen Engagement in den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen

Um diese Frage zu beantworten, kann ein Blick in die Vergangenheit hilfreich sein. Jochen von Bernstorff, selbst einst Vertreter Deutschlands bei den Verhandlungen zur UN-Behindertenrechtskonvention und Mitglied der deutschen Delegation in der ehemaligen Menschenrechtskommission und dem Menschenrechtsrat, hob hervor, dass Deutschland 1993 der Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte durchaus skeptisch gegenüber stand. Dabei hatte sich die BRD bereits sehr früh für die Menschenrechtspolitik der UN eingesetzt. Am 28. September 1976 begann die bundesrepublikanische Menschenrechtspolitik mit einem “Paukenschlag”, als Hans Dietrich Genscher einen Weltgerichtshof für Menschenrechte vorschlug. Dabei sah sich die BRD durchaus auch Kritik ausgesetzt: Die DDR prangerte vor allem die fehlende Bestrafung ehemaliger SS-Funktionäre in Westdeutschland an und schalt die Bundesrepublik für ihre Verstrickungen mit dem diktatorischen Argentinien und dem Apartheidregime Südafrikas. Damit waren die Jahre der geteilten Mitgliedschaft Deutschlands vor allem geprägt durch ein “Ringen” um die Stellung als Musterknabe.

Warum also dann 1993 die Skepsis gegenüber der Idee der Unteilbarkeit? Ich vermute, dass vor allem bei Leistungsrechten trotz grundrechtsdogmatischer Durchbrüche auch auf der nationalen Ebene durchaus noch Skepsis herrschte, ob und in welchem Umfang Leistungsrechte – und dazu gehören die allermeisten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte – einklagbar sind. Denn traditionell werden Grundrechte vor allem als Abwehrrechte verstanden, also als Räume, die frei von staatlichen Eingriffen sind. Wird aber etwa ein „Recht auf Gesundheit“ ausgerufen, so ist nicht immer klar, welche konkrete Leistungspflicht hier den Staat trifft. Dass das institutionelle Gefüge der Vereinten Nationen hier nicht nur zur Ausgestaltung einzelner Rechte, sondern gar zu einem neuen Menschenrecht führen kann, erläuterte von Bernstorff an einem Beispiel: 2010 verabschiedete die Generalversammlung Resolution 64/292, in der explizit ein Recht auf Wasser und sanitäre Einrichtungen als Menschenrecht anerkannt wurde. Dem war aber ein langer Prozess vorausgegangen: Der Ausschuss zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten hatte bereits 2002 unter Mitwirkung auch deutscher Völkerrechtler wie Eibe Riedel und Bruno Simma den General Comment No. 15 verabschiedet, der aus den Artikeln 11 und 12 des Wirtschafts- und Sozialpaktes – den Rechten auf einen angemessenen Lebensstandard und auf Gesundheit – ein Recht auf sauberes Trinkwasser ableitete. Dieser General Comment wurde mehrfach in der Menschenrechtskommission und dem neuen Menschenrechtsrat diskutiert, und schließlich das Recht auf sauberes Trinkwasser und Sanitäreinrichtungen nach der Generalversammlung auch vom Menschenrechtsrat im Jahre 2011 anerkannt.

Wenn also Jochen von Bernstorff in dieser Hinsicht Deutschland ein positives Zeugnis bescheinigte und auch dessen positive Rolle beim Reformprozess des VN-Menschenrechtssystems hervorhob, bleibt die Frage: Reichen einzelne Beiträge, wie etwa zum Recht auf sauberes Trinkwasser, aus, um Fragmentierungstendenzen entgegenzuwirken? Bedarf es neuer Ansätze, wenn Menschenrechte auf immer größere Teile des VN-Systems Auswirkungen haben?

Menschenrechtsschutz durch den Sicherheitsrat: Dominik Steiger zur Sanktionspolitik und zum Individualrechtsschutz

Dass die Menschenrechte auch im Sicherheitsrat immer größere Bedeutung erfahren, zeichnete Dominik Steiger nach. Heute ist allgemein anerkannt, dass massive Menschenrechtsverletzungen – etwa im Rahmen eines internen Konflikts – eine Bedrohung für den internationalen Frieden darstellen und Handlungsoptionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII eröffnen. Der Sicherheitsrat hat in den letzten Jahren vermehrt sogenannte thematische Resolutionen erarbeitet, so etwa zum Thema Kinder und bewaffnete Konflikte. Dabei habe Deutschland eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen der Resolution 1539 (2004) gespielt, die als Wegbereiter für individuelle Maßnahmen gegen Gruppen, die Kindersoldat_innen einsetzen, gilt.

Dass menschenrechtliche Garantien nicht zuletzt auch die Vereinten Nationen selbst binden, zeigt die Diskussion um Rechtsschutzmöglichkeiten gegen individuelle Sanktionsregime. Mit Resolution 1267 (1999) verabschiedete der Sicherheitsrat ein Sanktionsregime, das unter anderem vorsah, Gelder von mutmaßlichen Unterstützer_innen der Taliban einzufrieren. Wer Gegenstand solcher Sanktionen war, wurde durch einen Ausschuss des Sicherheitsrats beschlossen. Das traf auch Yassin Abdullah Kadi und seine in Schweden ansässige Al-Barakaat-Stiftung. Da es Kadi nicht ermöglicht wurde, von der Liste gestrichen zu werden, oder jedenfalls in einem rechtsförmigen Verfahren nachprüfen zu lassen, ob er zu Recht auf die Liste gesetzt wurde, klagte vor dem Europäischen Gerichtshof und bekam Recht. Das schreckte natürlich den Sicherheitsrat auf, der seinerseits – unter tatkräftiger und aktiver Unterstützung Deutschlands – ein Ombudsverfahren einrichtete, welches aber aus menschenrechtlicher Sicht nach wie vor defizitär ist. Es zeigt sich aber an diesem Beispiel, dass menschenrechtliche Gesichtspunkte die Arbeitsweisen eines so gewichtigen Organs wie dem Sicherheitsrat auch nachhaltig verändern können. Allerdings haben in diesem Fall gerade nicht die Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen eingegriffen. Vielmehr war es der Standard der Europäischen Union, der zu einer ersten Verbesserung führte.

Menschenrechte als Ordnungsstruktur?

Sind Menschenrechte also als Ordnungsstruktur zu sehen, die vor allem normativ als ordnendes Element funktionieren? Wie sich momentan am Syrienkonflikt zeigt, ist der Zielkonflikt zwischen Menschenrechten einerseits und der Souveränität sowie der Friedenssicherung andererseits noch lange nicht ausgetragen. Einig waren sich alle Panellisten, dass sich die deutsche Politik zu häufig hinter EU-Politik versteckt, dass Deutschland durchaus deutlicher eine eigene Menschenrechtspolitik entwickeln könnte. Aber was kann das heißen?

Ein nach wie vor großes Defizit der Menschenrechte ist ihre mangelhafte Durchsetzbarkeit. Georg Nolte hatte am Vorabend gefordert, mehr Wert zu legen auf die Einhaltung völkerrechtlicher Normen durch rechtsförmige Institutionen. Bedeutet das also doch, Genschers Traum vom Menschenrechtsgericht wahr zu machen? Politisch erscheint dies gegenwärtig nicht durchsetzbar, denkbar wäre aber zumindest eine bessere Vernetzung der bestehenden Ausschüsse. Die Individualbeschwerdeverfahren der einzelnen Menschenrechtsverträge existieren bereits. Sie werden aber nur selten genutzt und – das forderte Heiner Bielefeldt in der Diskussion – müssen erst einmal ernst genommen werden. Hier legte aber gleich Andreas Zumach den Finger in die Wunde: Denn die Entscheidung des Antirassismus-Ausschusses wird gerade in Deutschland oftmals nicht ernst genommen. Im April diesen Jahres hatte der Ausschuss die Äußerungen Thilo Sarrazins in der Zeitschrift Lettre International für rassistisch erklärt und Deutschland außerdem wegen nicht ausreichender Sanktionierung dieser Äußerungen gerügt. Innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft stieß die Rüge auf Kritik: Sarrazins Äußerungen seien von der Meinungsfreiheit gedeckt. Auch Heiner Bielefeldt schloss sich dieser Kritik an und sah jedenfalls keinen gesteigerten Bedarf nach einer Änderung des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Hier zeigt sich: Offensichtlich gibt es selbst bei den Enthusiasten des internationalen Menschenrechtsschutzes Skepsis, wenn ein Ausschuss autoritativ über einen Einzelfall entscheidet. Ich denke aber, das gehört zu einer Verbesserung der Effizienz internationalen Menschenrechtsschutzes dazu: Das Entscheidungsgefüge muss auch dann anerkannt werden, wenn man mit der Entscheidung aus politischen Gründen nicht übereinstimmt, etwa weil man die Meinungsfreiheit höher gewichtet als den Schutz vor rassistischen Äußerungen. Denn sonst droht man sich leicht selbst dem Vorwurf einer reinen Menschenrechtssemantik ausgesetzt. Deshalb sollte Deutschland, wenn auch vielleicht zähneknirschend, die Entscheidung des Antirassismus-Ausschusses rasch umsetzen. Gleichzeitig kann es sich stark machen für eine stärkere Vernetzung der einzelnen Gremien. Das ist sicher erforderlich, um die normative Ordnungsfunktion der Menschenrechte auch institutionell abzusichern. Und könnte gerade ein spezifisch deutscher Beitrag zur VN-Menschenrechtspolitik sein.

Panel 2: Menschenrechte, 19.09.2013, 11h30

Referat: Heiner Bielefeldt

Discussants: Jochen von Bernstorff, Dominik Steiger

Moderation: Andreas Zumach

“Deutschland ist ein wichtiger Träger der Vereinten Nationen” – Interview mit Prof. Dr. Georg Nolte

Dies ist der erste Teil unseres Schwerpunkts zur 40jährigen Mitgliedschafts Deutschlands in den Vereinten Nationen.

Prof. Dr. Georg Nolte, (c) http://nolte.rewi.hu-berlin.de/

(c) HU Berlin

Es gibt etwas zu feiern: Am 18. September 1973, vor 40 Jahren, traten die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik als 133. und 134. Mitglied den Vereinten Nationen bei. Anlässlich dieses Jubiläums veranstaltet die Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen eine Fachtagung in Berlin, auf der nicht nur zurück-, sondern auch nach vorn geschaut werden soll. Einen ersten Einblick gewährt unser Interview mit Professor Dr. Georg Nolte, Völkerrechtsprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen. Professor Nolte wird im Rahmen der Fachtagung eine Keynote-Speech zur Rolle Deutschlands bei der Weiterentwicklung des Völkerrechts halten.

Was bleibt aus den 17 Jahren paralleler Mitgliedschaft besonders in Erinnerung? Wie hat sich Deutschlands Rolle in den VN seit 1990 verändert?

Die beiden deutschen Staaten haben sich als Mitglieder der Vereinten Nationen im Verhältnis zueinander weniger kontrovers verhalten als vor ihrer Mitgliedschaft. Bei Gegenständen, welche keine spezifischen Auswirkungen auf das Verhältnis zueinander hatten, haben sie sich im Rahmen der Vorstellungen ihres jeweiligen „Lagers“ bewegt. Heute noch lehrreich sind die unterschiedlichen menschenrechtlichen Vorstellungen, welche von beiden deutschen Staaten bis 1990 vertreten wurden.

Gemäß Artikel 53 und 103 der Charta gilt Deutschland nach wie vor als „Feindstaat“. Hat diese Regelung noch Bestand?

Die Generalversammlung hat die Feindstaatenklauseln im Jahr 1995 in Resolution 50/52 für „obsolet“ erklärt. Darüber hinaus haben sich die Staaten im Jahr 2005 in einer im Konsens angenommenen Resolution (im sog. Outcome-Dokument) weiterhin „entschlossen“ gezeigt, die Bezugnahmen auf Feindstaaten in der Charta mittels eines formellen Vertragsänderungsverfahrens zu beseitigen. Richtigerweise sind die Klauseln nach allgemeinem Völkerrecht auch dadurch rechtlich obsolet geworden. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass die formelle Fortexistenz der Klauseln in der Charta von einzelnen Staaten in zukünftigen Situationen als Anknüpfungspunkt verwendet wird. Hierfür gibt es zur Zeit in Ostasien mehr denkbare Anlässe als in Europa.

Nach 40 Jahren in den Vereinten Nationen: Ist Deutschland der „Musterknabe“ in den Vereinten Nationen?

Deutschland ist sicher ein geachtetes Mitglied der UN. Der Ausdruck „Musterknabe“ legt allerdings auch nahe, dass jemand beweisen möchte, dass er oder sie besonders gut ist. Ich glaube nicht, dass andere Staaten heute annehmen, dass Deutschlands Positionen und Verhalten dadurch zu erklären sind, dass das Land etwas beweisen möchte. Deutschland ist ein wichtiger Träger der Vereinten Nationen und seine Werte und Interessen machen es ihm in den meisten Fällen möglich, eine konstruktive Haltung innerhalb der UN zu vertreten. Allerdings kann man nicht sagen, dass Deutschland in Hinblick auf das wichtigste Element der UN-Mitgliedschaft, die Bereitschaft zur Unterstützung auch von militärischen Zwangsmaßnahmen Kollektiver Sicherheit, immer eine klare Linie gefunden hat.

Was erwarten Sie sich von der DGVN-Tagung?

Ich hoffe, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in eine gute Balance gebracht werden.