Die ILO: ein aussterbender Dinosaurier?

Der Einsturz des Rana Plaza, einer Textilfabrik in Bangladesch, unter dessen Trümmern mehr als 1.100 Menschen begraben wurden, wirft die drängende Frage nach der Umsetzung globaler Standards für den Schutz am Arbeitsplatz auf. Mit dem Übereinkommen C155 hat die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) ein Instrument zur Verfügung, auf dessen Durchsetzung sie pochen könnte. Doch die ILO, deren Arbeitskonferenz aktuell zum 102. Mal tagt, agiert eher im Hintergrund. Der ältesten Sonderorganisation der Vereinten Nationen gelingt es trotz aktueller Relevanz kaum, sich angemessen in Szene zu setzen.

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(Eröffnung der 102. ILC, eingesehen auf http://www.flickr.com/photos/ilopictures/8959007080/sizes/m/in/set-72157633929063007/)

Die ILO ist ein Agent sozialer Gerechtigkeit…

Dabei sind die Themen der ILO aktuell wie eh und je. Die Gründung der Organisation 1919 geht auf den Vertrag von Versailles zurück, durch den auch der Völkerbund gegründet wurde. Demnach sei ein nachhaltiger Frieden weltweit nur mit einer gerechten Weltordnung zu erreichen.

„Arbeitsbedingungen bestehen, die für eine große Anzahl von Menschen mit so viel Ungerechtigkeit, Elend und Entbehrungen verbunden sind, daß eine den Weltfrieden und die Welteintracht gefährdende Unzufriedenheit entsteht, und […] eine Verbesserung dieser Bedingungen dringend erforderlich ist […]” (Vertrag von Versailles Teil XIII, Abschnitt 1).

Die Kooperation zwischen den Staaten in der ILO sollte es erleichtern, sich auf gemeinsame Standards zu einigen und einen Wettbewerb im race to the bottom um die niedrigsten Arbeits- und Sozialstands zu verhindern. Die westlichen industrialisierten Staaten wollten so auch der kommunistischen Internationalen den Wind aus den Segeln nehmen und revolutionäre Bestrebungen der Arbeitnehmerschaft verhindern. Eine maßgebliche Aufgabe der ILO ist daher die Erarbeitung von weltweit gültigen Übereinkommen zur Verbesserung der Lebenssituation der globalen Arbeitnehmerschaft.

Anders als der Völkerbund hat die ILO den zweiten Weltkrieg überlebt und ist seit 1946 die erste Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Ihre Ziele hat sie durch die Erklärung von Philadelphia von 1944 noch einmal präzisiert. Darunter fallen die Bekämpfung von Not und Armut, die Förderung des Wohlstandes, die Förderung der Vereinigungsfreiheit und der Schutz von Arbeitnehmern. In einer weiteren richtungsweisenden Erklärung bekennt sich die ILO zur Förderung von fundamentalen Prinzipien und Rechten bei der Arbeit (1998). Mit der Erklärung über soziale Gerechtigkeit für eine faire Globalisierung von 2008 definiert die ILO die weltweite Durchsetzung universell gültiger und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen zu ihrer Priorität. Mit mittlerweile über 70 ratifizierbaren Übereinkommen und zahlreichen Protokollen und Empfehlungen versucht die ILO, ihrem Auftrag nachzukommen.

… agiert aber im Hintergrund.

Angesichts dieser Zielsetzungen erstaunt es, dass die ILO in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird. Selbst krasse Verletzungen des Arbeitsschutzes werden durch die ILO eher im Hintergrund bearbeitet. Hierzu gehören in den letzten sechs Monaten beispielsweise verheerende Brände in Betrieben der textilverarbeitenden Industrie in Pakistan und Bangladesch. Den schrecklichen Höhepunkt bildet der Einsturz des Rana Plaza in Bangladesch. Unter den Trümmern des Fabrikgebäudes, in dem vorrangig Bekleidung für westliche Modelabels produziert wurde, starben im Mai 2013 mehr als 1.100 Menschen. Die Ursachen für diese Unfälle liegen im mangelhaften Brandschutz und unzureichender Gebäudesicherheit.

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(Trümmer des Rana Plaza, eingesehen auf http://www.unmultimedia.org/radio/english/wp-content/uploads/2013/05/ILO-Bangladesh.jpg)

Versuche der ILO, beispielsweise durch Aufklärungsvideos die Situation in Punkto Brandschutz zu verbessern, wirken vor diesem Hintergrund beinahe grotesk. Dennoch zeigt die ILO auf der operativen Ebene Einsatz: Im Mai schickte sie kurzfristig eine Mission nach Dakha, Bangladesch, um den Einsturz des Rana Plaza zu untersuchen. Als Ergebnis wurde ein nationaler Aktionsplan erarbeitet. Dieser sieht unter anderem vor, dass Arbeitsgesetzgebung und Sicherheitsstandards novelliert werden und dass vermehrt Arbeitsinspektionen zur Überprüfung der Einhaltung solcher Standards eingesetzt werden. Die Umsetzung des Aktionsplans soll in Kooperation mit der ILO nach sechs Monaten verbindlich geprüft werden. Auch konnte die ILO einen Aktionsplan zwischen der Regierung von Bangladesch, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften vermitteln, in dem der Feuerschutz in der Textilindustrie verbessert werden sollte. Dies alles blieb von der internationalen Öffentlichkeit jedoch nahezu unbemerkt.

Lorbeeren ernten private Unternehmen…

Wirkungsvoll in Szene setzen sich hingegen einige internationale Unternehmen. Diese haben den Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh mit ihren Partnern in Bangladesch unter Beteiligung von Gewerkschaften ausgehandelt. Ziel ist ebenfalls der Brandschutz und die Verbesserung der Gebäudesicherheit. Sogar kritische Nichtregierungsorganisationen wie die Clean Clothes Campaign oder das International Labor Rights Forum begrüßen dieses Abkommen, dem inzwischen 37 Unternehmen beigetreten sind. Auch der ILO wird eine Rolle zugewiesen: Sie soll sicherstellen, dass das Abkommen implementiert wird, genauere Angaben gibt es aber nicht. Sicherlich ist dies ein wichtiger Schritt. Doch das Abkommen hat nur eine begrenzte Reichweite: “The aim is to have safety inspectors on the ground as quickly as possible in order to begin to fix the most urgent problems“ so der internationale Gewerkschaftsbund IndustrieAll.

Damit bleibt der Accord aber hinter dem 1981 beschlossenen ILO-Übereinkommen 155 zurück. In dem Übereinkommen wird nämlich der Gesetzgeber aufgefordert, auf nationaler Ebene eine kohärente Politik zu formulieren. Die Arbeitgeber stehen danach in der Pflicht, diese Bestimmungen umzusetzen. Doch nur 60 Staaten haben das Übereinkommen C155 von 1981 ratifiziert und das Zusatzprotokoll P155 von 2005 anerkannt. Die überwiegende Anzahl der Staaten, darunter auch Bangladesch und Pakistan, haben sich diesem Prozess bislang entzogen. Bestehende Standards werden in Bangladesch nur von 50% der Unternehmen in der Bekleidungsindustrie umgesetzt.

…möglicherweise zu Unrecht

Es bleibt daher fraglich, ob sich die Situation für die betroffenen Arbeitnehmer/-innen in Bangladesch und anderen Ländern nachhaltig bessert. Die 37 Unternehmen, die den Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh unterzeichnet haben, machen nur einen kleinen Teil der Abnehmer prekär produzierter Textilien aus. Hierzu gehören zwar auch Größen wie H&M oder Primark. Dagegen verweigern viele Unternehmen die Unterschrift – darunter die US-Branchenriesen Walmart und GAP. Zudem konzentriert sich das Abkommen nur auf die Zulieferunternehmen, die mit den Unterzeichnern Verträge haben. Das Abkommen ist damit auf die exportorientierte Textilindustrie beschränkt. Ungeklärt ist auch, ob die gesamte Zuliefererkette vom Anbau der Baumwolle über die Verarbeitung zu Garn und Stoffen bis zur tatsächlichen Produktion von Kleidung von dem Übereinkommen profitieren kann. Andere Branchen bleiben gänzlich unberührt. Das Feuer in einem Hühnermastbetrieb in China, bei dem jüngst mehr als 120 Menschen ihr Leben lassen mussten, zeigt aber, dass der Brand- und Gebäudeschutz universell durchgesetzt werden muss. Daher ist die Kooperation zwischen Unternehmen der Bekleidungsbranche für die unmittelbar Betroffenen zwar zu begrüßen, könnte aber auch als der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein verpuffen.

Die ILO muss ihre Relevanz erneut unter Beweis stellen

Ein wirklich wirksamer Schutz muss daher branchenübergreifend ansetzen und den Gesetzgeber einbeziehen, um Verbindlichkeit entfalten zu können. Die ILO ist hierfür der geeignete Ort, sie hat den Auftrag und die Kompetenz, international verbindliche Arbeitsstandards zu verabschieden und muss deren Umsetzung befördern. Dies bekräftigte auch Generaldirektor Guy Ryder in seiner Eröffnungsrede zu der  102. Internationalen Arbeitskonferenz:

„Here at the ILO we have the mandate, we have the right actors and we are equipping ourselves with the means to make the world of work a better, more humane, kinder and fairer one […]” (ab Minute 2:53; Statement ab 6:44).

Im gegebenen Fall müsste die ILO auf die Ratifikation und Implementation ihrer Übereinkommen zum Arbeitsschutz pochen. Wenn es der ILO aber nicht gelingt, die Staatengemeinschaft zur Anerkennung ihrer Standards zu bewegen, wird sie an Relevanz verlieren. Ihre wichtige Arbeit wird in der Öffentlichkeit schon jetzt kaum wahrgenommen, obgleich viele Anknüpfungspunkte bestehen. Wenn sich an dieser Schieflage langfristig nichts ändert, droht die ILO vom Dinosaurier zum Fossil zu werden.