Bündiges Orientierungswissen zu den Vereinten Nationen

Rezension – Gareis, Sven Bernhard/Varwick, Johannes 2014: Die Vereinten Nationen: Aufgaben, Instrumente und Reformen, 5. vollst. überarb. u. aktual. Aufl., Barbara Budrich: Opladen/Toronto, UTB-Bandnr. 8328, ISBN 978-3-8252-8573-9, 428 S., 19,99 EUR.

von Carolin Anthes

Der Sparte Lehrbuch haftet in Zeiten der ausdifferenzierten Debattenkultur unserer Disziplin fast schon etwas zweifelhaft Anachronistisches an. Sie erweckt den Anschein als gäbe es einen fest und zudem objektiv umreißbaren Wissens-, Methoden-, und Theoriebestand, der Studierenden wohldosiert und unproblematisch verabreicht werden könne. Was hier überspitzt formuliert wird, verliert da an Schlagkraft, wo Lehrbuchautor_innen (selbst-)reflektiert an die Sache herangehen und deutlich machen, dass jede Strukturierung und Auslassung per se schon selektiv ist und kein objektiver Wissensbestand oder gar ein letztgültiges Deutungsmuster unterbreitet werden soll. Gerade aufgrund der überbordenden Vielfalt und Dichte dürsten v.a. Einsteiger_innen in die Disziplin verständlicherweise nach Inseln der Orientierung in der schieren Flut der Informationsmenge.

So hat sich das Lehr- und Studienbuch „Die Vereinten Nationen: Aufgaben, Instrumente und Reformen“ von Sven Bernhard Gareis und Johannes Varwick mittlerweile als Standardwerk in jeder ernst zu nehmenden politikwissenschaftlichen Bibliothek des deutschen Sprachraums zum Thema UN etablieren können. Anfang des Jahres ist mit der 5. Auflage eine vollständig überarbeitete und aktualisierte Fassung vorgelegt worden, die nach einem kritisch-würdigenden Blick verlangt.

Die Zielsetzung ist so klar wie der Inhalt strukturiert: Das Werk „will in gewohnter Weise in die zentralen Tätigkeitsfelder der Vereinten Nationen einführen, ihre Reformperspektiven bewerten und die Rolle der Weltorganisation in der internationalen Politik diskutieren“, wofür es an neue Entwicklungen in den Vereinten Nationen sowie in der internationalen Politik angepasst wurde (Vorwort).

Beibehalten wurde die Gliederung der 4. Auflage. Im einführenden Teil A „Die Vereinten Nationen zwischen Anspruch und Wirklichkeit“ geben die Autoren einen konzisen Überblick über das System der UN, ihre Geschichte, Kernnormen der Charta, Hauptorgane und -akteure. Zudem führen sie in zentrale politikwissenschaftliche Analysekategorien und Theorieansätze zu internationalen Organisationen ein. Ein Abschnitt der notgedrungen nur an der  Oberfläche des state of the art zu kratzen vermag, aber der Leserschaft immerhin eine Idee von Werkzeugen zur wissenschaftlichen Durchdringung der Materie vermittelt. Allerdings ist fraglich, ob z.B. die vielfältigen konstruktivistischen Ansätze in den Internationalen Beziehungen unter der Kategorie „konstruktivistische Schule“ gefasst werden sollten, hier fehlt der Platz für Problembewusstsein, was paradigmatisch den Nachteil eines solch kurzen Überblicksabschnittes verdeutlicht.

Teil B widmet sich dem „Instrumentarium im Bereich der Friedenssicherung“. Das zentrale Prinzip der kollektiven Sicherheit wird mitsamt seiner normativen Grundlagen, historischem Kontext sowie offenkundigen Problemzonen, wie z.B. die Selektivität und mangelnde Legitimität des Sicherheitsrates als Gewaltlegitimationsinstanz, vorgestellt. In einem zweiten Abschnitt nehmen die Autoren die sich wandelnde Praxis der UN-Friedenssicherung von ihren Anfängen bis heute in den Blick und mit ihr auch zentrale Entwicklungen des weltweiten Kriegsgeschehens. Neben einer gründlichen Darstellung der Debatte zu den verschiedenen „Generationen“ der Friedenssicherung im UN-Rahmen finden hier u.a. auch die Bereiche Rüstungskontrolle, Prävention und der globale Terrorismus Berücksichtigung. Das eigenständige Kapitel zum Irak-Krieg von 2003 aus der 4. Auflage wurde fallen gelassen, hinzu kam ein Abschnitt zur neu geschaffenen Kommission für Friedenskonsolidierung.

Teil C stellt mit dem Menschenrechtsschutz das Instrumentarium eines weiteren großen Tätigkeitsfeldes der UN vor. Normative Entwicklung, Kodifizierung und Ausgestaltung werden angefangen bei der UN-Charta und der internationalen Menschenrechtscharta (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Zivil- und Sozialpakt) thematisiert. Die verschiedenen Normbereiche, zugehörige Konventionen, Vertragsorgane und Verfahren werden skizziert. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem neu gegründeten Menschenrechtsrat und dem Hochkommissariat für Menschenrechte (OHCHR) in Genf. Neben einer recht ausführlichen Diskussion zur internationalen Strafgerichtsbarkeit legen die Autoren ihr Augenmerk auf neuere Entwicklungen zur internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect, R2P) und ziehen eine vorläufige Bilanz.

Teil D wendet sich schließlich dem Instrumentarium in den Feldern Wirtschaft, Entwicklung und Umwelt zu. Auch hier bleibt die inhaltliche Struktur erhalten: Nord-Süd-Thematik, Grundgerüst der UN-Entwicklungszusammenarbeit und Millenniumentwicklungsziele werden genauso behandelt wie z.B. Flüchtlingsschutz, humanitäre Hilfe, Bevölkerungsfragen und Umwelt- sowie Klimapolitik.

Teil E „Reform und Neuorientierung der Vereinten Nationen“ greift die bekannten und weniger bekannten Reformdiskussionen auf, neben institutionellen Reformdebatten, z.B. den Sicherheitsrat und das Management betreffend, thematisieren die Autoren Diskussionen im Bereich des Völkerrechts und vertiefen Reformansätze in den Sparten Friedenssicherung, Menschenrechtsschutz und Wirtschaft, Entwicklung, Umwelt. Die Autoren beweisen eindrucksvoll, dass es an hartnäckigem Reformbedarf jedenfalls nicht mangelt und sich „UN-Reform“ als mühsamer, langfristiger aber unabdingbarer Prozess darstellt. Neu hinzugekommen sind hier der R2P-Diskurs, die post-2015 Debatte zu neuen Entwicklungs- bzw. Nachhaltigkeitszielen sowie Tendenzen zur Club Governance. Der Ausblick und die Thesen zur Zukunft der Vereinten Nationen spitzen bewusst zu und eignen sich gerade wegen ihres spekulativen Charakters zum Diskussionseinstieg.

Offenbar hat sich das Modell der vorangegangenen Auflagen bewährt und der Inhalt wurde im Vergleich zwar aktualisiert aber wohl kaum „vollständig überarbeitet“. Dies äußert sich an manchen Stellen negativ, wo neuere Entwicklungen nicht ganz stolperfrei in den alten Argumentationsgang eingepflegt wurden. So wirkt das Anführen des neuen Organs UN Women unter der Rubrik „Bevölkerungsfragen“ seltsam deplatziert (S. 278), wenngleich die Autoren im Reformteil E noch einmal kurz auf das Organ zu sprechen kommen. Auch die treffenden Überlegungen zu Tendenzen der Club Governance könnten sich schlüssiger in den vorhandenen Abschnitt zur Global Governance, der ohnehin von einigen Redundanzen geprägt ist, einfügen (ab. S. 345).

Im Teil C zum Menschenrechtsschutz, den ich hier herausgreifen will, ist der starke Fokus auf humanitäre Interventionen und die R2P im Bereich „Neuere Ansätze und Perspektiven“ zwar verständlich und auch begrüßenswert, da die sich hierum spinnenden Debatten tatsächlich wie kaum ein anderes Thema die Vereinten Nationen in den letzten Jahren beschäftigt haben, allerdings geht dies auf Kosten ebenfalls wichtiger Entwicklungen im globalen Menschenrechtsbereich. So z.B. die erstarkende Debatte um extraterritoriale Staatenpflichten (ETOs) oder Menschenrechtspflichten von Unternehmen („Protect, Respect and Remedy Framework“, auch bekannt als „Ruggie Framework“), die auch im kurzen Abschnitt zum Global Compact (Teil A, S. 61) nicht erwähnt werden. Auch bin ich verhaltener, was die Prognose der Autoren, die Phase des standard setting und der Kodifikation nähere sich ihrem Ende (S. 204), anbelangt. Seit einigen Jahren werden Anstrengungen unternommen um z.B. ein Menschenrecht auf Land oder aber Menschenrechte älterer Personen auszugestalten und zu kodifizieren – die Normsetzungsaktivitäten sind hier in vollem Gange. Überdies hat sich die Verankerung der Menschenrechte als Querschnittsaufgabe (human rights mainstreaming) bereits über einen Reformvorschlag (S. 327) hinausentwickelt. So schuf die UN Development Group 2009 einen Mechanismus (UNDG Human Rights Mainstreaming Mechanism), der sich dieser Aufgabe im Entwicklungsbereich widmet und der Menschenrechtsrat hat das Thema jährlich in Form eines High-level Panels auf der Agenda. Allerdings leuchtet es ein, dass Auslassungen durch Prioritätensetzung in einem solchen Überblicksband kaum zu vermeiden sind. Hierdurch vorgenommene Gewichtungen müssen aber dennoch kritisch geprüft und diskutiert werden, gerade auch aufgrund des „Lehrbuchanspruches“ und der breiten Rezeption des Werkes.

Dabei muss den beiden Autoren zugute gehalten werden, dass die analysierende, einordnende und wertende Autorenstimme klar sichtbar ist und die Leser_innen sich hierzu positionieren können und sollen. Das Werk liefert somit weitaus mehr als eine „deskriptive“ Darstellung der Arbeit der Vereinten Nationen und erfüllt somit die selbst gesteckten Ziele. Zudem führt es in den wissenschaftlichen Diskurs zu den Vereinten Nationen ein und zahlreiche weitere Forscher_innen kommen selbst zu Wort. Insgesamt gelingt es den Autoren, ein differenziertes und leicht verständliches Bild der heterogenen „UN-Familie“ und ihrer historischen sowie gegenwärtigen Herausforderungen zu zeichnen. Sie werden hierbei auch nicht müde, immer wieder auf einen wichtigen Punkt aufmerksam zu machen: Ebenso wenig wie es „die“ UN gibt, darf bei allem UN bashing niemals vergessen werden,  dass die Vereinten Nationen als intergouvernementale Organisation maßgeblich vom politischen Willen und Engagement der Mitgliedstaaten abhängig ist und bleibt. Dies zu unterschlagen verzerre zu Unrecht das Bild der Handlungsmacht der Weltorganisation, die nur „so weit agieren [könne], wie es die sie tragenden Staaten nach Abwägung der eigenen Interessen gestatten.“ (S. 295) Das Werk versteht es, das Interesse für die Vereinten Nationen und deren differenzierte, historisch informierte Bewertung zu wecken und animiert zum Weiterlesen und -denken. Zu Recht hat es sich einen zentralen Platz im Bereich der Einführungsliteratur der UN Studies erarbeitet, Studierende und Interessierte werden auch weiterhin von der Lektüre und den angebotenen Inseln der Orientierung profitieren.

In einer wissenschaftlichen Diskussion konstatierte kürzlich der renommierte Völkerrechtler Martti Koskenniemi leidenschaftlich-lapidar: „I don’t believe in the United Nations!“ (Vortrag am 11. Juni 2014 an der Goethe-Universität Frankfurt). Ich bin überzeugt davon, dass Gareis’ und Varwicks Werk es den Leser_innen schwer machen wird, ein solch pauschales und defätistisches Urteil zu fällen. Was könnten ernst zu nehmende Lehrbuchautoren mehr wollen?